Berlin. Der brutale Angriff auf den SPD-Europaabgeordneten Matthias Ecke in Dresden ist „Ausdruck einer allgemeinen Verrohung, die solche Angriffe leicht und jederzeit möglich macht“, sagte Sachsens Innenminister Armin Schuster im Gespräch mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ). Auf die viel zitierten „Weimarer Verhältnisse“ angesprochen – gemeint sind viele Attentate auf Politiker sowie ausufernde Straßenkämpfe zwischen radikalen rechten und linken Gruppen in der ersten deutschen Demokratie zwischen 1919 und 1933 – winkte Schuster ab: „Das mit Weimar zu vergleichen geht mir zu weit.“

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Ein Blick in die Vergangenheit lohnt sich dennoch: Welche politisch motivierten Attentate erschütterten Deutschland in den letzten 100 Jahren besonders? Welche Konsequenzen wurden daraus gezogen?

Weimarer Verhältnisse

Anschläge auf Repräsentanten begleiteten die ersten Jahre der ersten deutschen Demokratie, bekannt als Weimarer Republik. Das erste und prominenteste Opfer war der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner, der am 21. Februar 1919 auf dem Weg zum Landtag von einem deutsch-nationalen Offizier niedergeschossen wurde.

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Walter Rathenau – die Aufnahme entstand zwei Monate vor seinem Tod.

Walter Rathenau – die Aufnahme entstand zwei Monate vor seinem Tod.

Besonders zwei tödliche Anschläge auf herausragende Repräsentanten der Republik, ausgeführt von Attentätern der rechtsterroristischen Organisation Consul, prägen bis heute das Bild einer Demokratie, die es nicht vermochte, ihre wirkmächtigsten Vertreter zu schützen: Am 26. August 1921 wurde der ehemalige Reichsfinanzminister Matthias Erzberger ermordet, am 24. Juni 1922 der Reichsaußenminister Walther Rathenau. Trotz gezielter Hinweise der Polizei auf ein mögliches Attentat hatte Rathenau jede Form von Schutzmaßnahmen abgelehnt. In Berlin protestierten weit über 400.000 Menschen gegen das Attentat und demonstrierten für die Weimarer Republik. Ein Anschlag auf den ersten Ministerpräsidenten Philipp Scheidemann am 4. Juni 1922 misslang. Die Täter, falls man ihrer habhaft wurde, erhielten verhältnismäßig milde Haftstrafen, weil Justiz und Strafverfolgungsbehörden mit Republikfeinden durchsetzt war.

Folgen: Bereits einen Tag nach dem Rathenau-Mord erließ die Reichsregierung zwei Verordnungen zum Schutz der Republik. Im Juli wurden sie durch das Gesetz zum Schutz der Republik abgelöst, das zwar auch eine Handhabe zum Verbot extremistischer Organisationen bot, von der Justiz aber vor allem gegen die republikfeindliche Linke eingesetzt wurde.

Nachkriegsdeutschland

Politisch motivierte Anschläge auf Repräsentanten der noch jungen Bundesrepublik sind kaum bekannt. Am 27. März 1952 explodierte eine an den damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer adressierte Briefbombe, ein Sicherheitsbeamter starb dabei. Ein Bekennerschreiben deutete auf eine „Organisation jüdischer Partisanen“ als Täter hin, es ging wohl um Unzufriedenheit mit der deutsch-israelischen Aussöhnungspolitik.

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Rätsel gibt bis heute ein angeblicher (oder von der Stasi erfundener) Mordanschlag auf den DDR-Partei- und Staatschef Walter Ulbricht auf: 1968 sollen mehrere Personen versucht haben, ihn mit Jagdwaffen während eines Kuraufenthalts in Bad Liebenstein zu erschießen. Zumindest wird das in einem Schauprozess gegen fünf Männer vier Jahre später behauptet, vermutlich aber hatte es solche Pläne nie gegeben.

Andreas Baader und Gudrun Ensslin in der Anklagebank vor der Urteilsverkündung im Brandstifter-Prozess in Frankfurt am 31. Oktober 1968.

Andreas Baader und Gudrun Ensslin in der Anklagebank vor der Urteilsverkündung im Brandstifter-Prozess in Frankfurt am 31. Oktober 1968.

Die RAF-Zeit

Zwischen 1971 und 1998 ermordete die linksextremistische „Rote Armee Fraktion“ (RAF) in der Bundesrepublik insgesamt 34 Menschen, zahlreiche Menschen wurden verletzt. Neben den prominenten Opfern wie dem damaligen Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer, Generalbundesanwalt Siegfried Buback oder Gerold von Braunmühl, Ministerialdirektor im Auswärtigen Amt, gerieten viele Namen der Opfer schon bald in Vergessenheit.

Folgen: Der Staat reagierte auf den Terrorismus mit der Einschränkung von Verteidigungsrechten bei Prozessen gegen RAF-Mitglieder, der Verschärfung der Haftbedingungen sowie Erleichterungen für die Verfolgung von RAF-Mitgliedern durch die Staatsanwaltschaft und Bundesanwaltschaft. Hunderte Politiker und Wirtschaftsführer erhielten in den Jahren des RAF-Terrors erstmals Personenschutz.

Oskar Lafontaine

Durch den Messerangriff einer psychisch kranken Frau auf einer Wahlkampfveranstaltung in Köln wurde der damalige saarländische Ministerpräsident und SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine am 25. April 1990 lebensgefährlich verletzt. Die damals 42‑jährige Arzthelferin Adelheid S. näherte sich Lafontaine mit einem Blumenstrauß und bat ihn um ein Autogramm. Dann stach sie ihm ein 30 Zentimeter langes Messer in die rechte Halsseite. Lafontaine überlebte den Angriff nur knapp. Adelheid S. verbrachte mehr als 20 Jahre in einer geschlossenen Psychiatrie. 2013 wurde sie unter strengen Auflagen entlassen.

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Wolfgang Schäuble

Der psychisch kranke Dieter Kaufmann schoss bei einer Wahlkampfveranstaltung im badischen Oppenau am 12. Oktober 1990 auf den damaligen Bundesinnenminister. Aus einem halben Meter Entfernung traf der Mann Schäuble in Kiefer und Rückenmark. Der CDU-Politiker blieb querschnittsgelähmt. Kaufmann wurde im Prozess aufgrund paranoid-halluzinatorischer Schizophrenie für schuldunfähig erklärt und unbefristet in eine Klinik eingewiesen. Im Herbst 2004 wurde er entlassen. Kaufmann starb im Jahr 2019.

CDU-Politiker Wolfgang Schäuble: Bei einer Wahlkampfveranstaltung im badischen Oppenau schoss ein geistig Verwirrter auf den damaligen Bundesinnenminister.

CDU-Politiker Wolfgang Schäuble: Bei einer Wahlkampfveranstaltung im badischen Oppenau schoss ein geistig Verwirrter auf den damaligen Bundesinnenminister.

Gerhard Kaindl

Der rechtsextreme Politiker der Partei Deutsche Liga für Volk und Heimat wurde im April 1992 in einem Restaurant in Berlin erstochen. Die Täter bezeichnete sich als „Antifaschisten“. In einem Prozess im Jahr 1994 wurden insgesamt sieben türkisch- und kurdischstämmige Personen angeklagt. Drei von ihnen wurden wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu jeweils drei Jahren Haft verurteilt, zwei weitere zu Bewährungsstrafen. Der Haupttäter wurde nie gefasst.

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Rüdiger Butte

Im April 2013 erschoss ein 74‑jähriger Rentner den SPD-Landrat des Landkreises Hameln-Pyrmont in dessen Büro. Butte starb noch am Tatort. Das Motiv soll nach Polizeiangaben die drohende Zwangsräumung seines Hauses gewesen sein. Der Rentner tötete sich nach der Tat selbst.

Henriette Reker

Kurz vor der Wahl zur Kölner Oberbürgermeisterin rammte ein Rechtsextremist der parteilosen Kandidatin Henriette Reker am 17. Oktober 2015 ein Messer in den Hals. Reker überlebte den Mordversuch nur knapp. Tags darauf wurde sie gleich im ersten Wahlgang mit 52,7 Prozent der Stimmen zur Oberbürgermeisterin gewählt. Sie nahm die Wahl im Krankenhaus an. Der damals 44 Jahre alte Täter Frank S. gab an, aus fremdenfeindlichen Motiven heraus gehandelt zu haben. Er wurde zu 14 Jahren Haft verurteilt.

Andreas Hollstein

Mit den Worten „Ich steche dich ab. Mich lässt du verdursten, aber holst 200 Ausländer in die Stadt“ hielt ein 56‑Jähriger dem Bürgermeister der sauerländischen Stadt Altena, Andreas Hollstein, am 27. November 2017 in einem Dönerimbiss ein Messer an den Hals. Der Täter attackierte den damals 57‑Jährigen mit einer 30 Zentimeter langen Klinge. Rettungskräfte brachten den leicht verletzten Politiker in ein Krankenhaus, das er am Abend wieder verlassen konnte. Der Täter wurde zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt.

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Walter Lübcke

Wegen dessen liberaler Haltung zur Flüchtlingspolitik erschoss der Neonazi Stephan Ernst am 1. Juni 2019 den CDU-Regierungspräsidenten von Kassel Walter Lübcke aus nächster Nähe auf dessen Terrasse. Im Januar 2021 verurteilte das Frankfurter Oberlandesgericht (OLG) Ernst wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe und stellte die besondere Schwere der Schuld fest. Den Mitangeklagten Markus H., einen Freund von Ernst aus der rechten Szene, verurteilte das OLG zu einer eineinhalbjährigen Bewährungsstrafe wegen eines Waffendelikts – aber nicht wie angeklagt wegen Beihilfe zum Mord an Lübcke.

Folgen: Die Angriffe auf Schäuble und Lafontaine hatten zu einem Umdenken bei den Sicherheitsbehörden geführt. Noch in den späten 1980er-Jahren hatte der Terrorismus, besonders der der „Rote Armee Fraktion“, als die größte Bedrohung für Politiker gegolten. Seitdem wurden auch psychisch kranke Einzeltäter als Bedrohung wahrgenommen.

Spätestens seit dem Angriff auf Henriette Reker und dem auf Andreas Hollstein änderte sich die Bedrohungslage erneut. Zu der Bedrohung durch psychisch Kranke ist inzwischen die durch rechtsextremistisch beeinflusste Einzeltäter gekommen.

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Immer mehr scheinbar bürgerliche Menschen fühlen sich auch durch das Schweigen der Mitte zu gewissenlosen, bösen Taten bevollmächtigt.

Markus Nierth,

Evangelischer Theologe

Der evangelische Theologe Markus Nierth, der Anfang März 2015 nach Konflikten mit Anhängern der NPD als Bürgermeister von Tröglitz in Sachsen-Anhalt zurückgetreten war, sagte nach dem Anschlag auf Andreas Hollstein: „Immer mehr scheinbar bürgerliche Menschen fühlen sich auch durch das Schweigen der Mitte zu gewissenlosen, bösen Taten bevollmächtigt.“ Nierth rief dazu auf, klare Kante zu zeigen und „überall entschieden zu widersprechen, wo sich Menschen zum destruktiven Handeln entschlossen haben“.

Georg Gallus

Im baden-württembergischen Hattenhofen (Kreis Göppingen) wurde der FDP-Kreisrat Georg Gallus am 23. März 2023 durch mehrere Schüsse schwer verletzt. Der 65‑Jährige war durch das Fenster in seiner Wohnung angeschossen worden, musste operiert werden. Täter wurden bis heute nicht geschnappt, auch die Motive bleiben nebulös.

RND/nis/stu



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