Die Wähler im Vereinigten Königreich haben in den vergangenen Tagen Post bekommen von ihren lokalen Behörden, darin ein kleines Büchlein, das erklärt, wie die local elections funktionieren, die Kommunalwahlen. Im Königreich wurden am Donnerstag in mehr als hundert Gemeinden und Städten gewählt, und ganz vorne in dem Büchlein ging es um den wichtigsten Punkt, mit Bildern, Grafiken und ausführlichen Beschreibungen: die “Voter ID”. Erstmals mussten alle Wähler sich ausweisen, wenn sie ins Wahlstudio gehen, bisher genügte es, seinen Namen zu sagen, der wurde dann auf einer Liste abgestrichen.

2022 aber führte die konservative Regierung unter Boris Johnson ein neues Wahlgesetz ein, in dem nicht nur dafür gesorgt wurde, dass EU-Bürger in den local elections 2024 letztmalig mitwählen durften. Sondern eben auch, dass die Wähler künftig einen Führerschein oder ein anderes zur Identifikation zugelassenes Dokument mitbringen müssen; ein Meldewesen gibt es im Königreich nicht, daher auch keine Personalausweise. Wie gut die Maßnahme von den zahlreichen Wahlhelfern im Land umgesetzt wurde, zeigte nicht zuletzt Boris Johnson selbst, als er wählen wollte. Er wurde abgewiesen, weil er sich nicht ausweisen konnte.

Bei einer Nachwahl zum Unterhaus landen die Konservativen nur knapp vor den Rechten

Der frühere britische Premierminister wohnt mit Frau Carrie und den Kindern in South Oxfordshire, dort war er am Donnerstag im Wahlstudio erschienen, um seine Stimme abzugeben. Kurz danach berichtete Sky News etwas belustigt, Johnson sei wieder nach Hause geschickt worden, weil er keinerlei “Voter ID” dabeihatte. Er sei aber zurückgekehrt, mit korrekten Dokumenten, und habe gewählt, teilte Johnsons Sprecher später mit. Aber auch er konnte nicht verhindern, wie diese letzte Kommunalwahl vor den Parlamentswahlen verlief: erwartungsgemäß schlimm für die Tories.

Boris Johnson musste zwei Mal ins Wahlstudio von South Oxfordshire gehen, weil er sich beim ersten Besuch nicht ausweisen konnte (Archivbild). (Foto: Peter Nicholls/Reuters)

Wie schlimm genau, wird erst im Laufe des Wochenendes klar werden, wenn alle rund 2600 Gemeinderatssitze ausgezählt sind, dazu die zehn Bürgermeister in Städten und Großräumen, darunter nicht nur London, sondern etwa auch in den West Midlands. Dort war Amtsinhaber Andy Street zuletzt in den Umfragen nur knapp vor seinem Labour-Konkurrenten. Hoffnung dürfte ihm gemacht haben, dass eine andere starke Figur in der konservativen Lokalpolitik, Ben Houchen, sein Amt im Tees Valley verteidigen konnte. Wenn auch mit deutlichen Verlusten.

Hinzu kam die Nachwahl eines Unterhaussitzes, solche Nachwahlen werden meist nötig, wenn Abgeordnete zurücktreten (müssen). In Blackpool South war der Tory-Abgeordnete Scott Benton von der Partei suspendiert worden, nachdem bekannt geworden war, dass er sich mit Tausenden Pfund jeden Monat von Lobbyisten bestechen ließ. Blackpool liegt an der englischen Westküste, der Sitz ist einer jener “Red-Wall-Seats”, ein traditioneller roter Labour-Sitz also, der wie viele andere 2019 von Boris Johnson auf Blau gedreht worden war, die Farbe der Konservativen. Am frühen Freitagmorgen war klar, dass Blackpool South nun wieder rot ist. Labour gewann klar, der dabei registrierte “Swing” von 26 Prozentpunkten ist der drittgrößte von den Tories zu Labour bei einer Unterhauswahl in der Nachkriegsgeschichte.

Die Tories lagen auf Platz zwei – gerade mal 117 Stimmen vor der Partei Reform UK, die in Blackpool mit 16,9 Prozent der Stimmen ihr bisher bestes Ergebnis bei einer Unterhauswahl erzielte und die Tories seit einiger Zeit von rechts bedrängt. Deren Ehrenvorsitzender ist der unverhohlen rechte Populist Nigel Farage. Sie könnte die Konservativen auch bei den Parlamentswahlen Stimmen kosten, weshalb der erschreckend knappe Vorsprung vor Reform UK die schlechteste Nachricht dieses Wahltags für die Partei von Premierminister Rishi Sunak war.

Eine Frau geht in ein Wahllokal im Norden von London, um dort ihre Stimme abzugeben. (Foto: BENJAMIN CREMEL/AFP)

Auch sonst brachte der Tag wenig Ermutigendes für die Tories. Mit Stand Freitagmorgen waren schon mehr als hundert Council-Sitze verloren, viele davon an Labour. Die Kommunalwahlen sind, was die Verteilung der Macht im Unterhaus angeht, zwar irrelevant, aber dennoch stets ein Stimmungsbarometer. Der stets sachliche Meinungsforscher John Curtice sagte in der BBC, das Ergebnis der Nachwahl in Blackpool sei nichts anderes als “spektakulär”, und was die Kommunalwahlen angehe: Wenn sich der erste Trend bis Samstag bestätige, drohe den Konservativen “eines der schlechtesten, wenn nicht das schlechteste Ergebnis für eine konservative Regierung bei Kommunalwahlen der vergangenen vierzig Jahre”.



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