Intifada, Aufstand, stand auf einem der Banner, das die mit Kefije-Tüchern verhüllten Besetzer der Hamilton Hall aus einem Fenster hängten. In der Nacht zum Dienstag hatten sie das geschichtsträchtige Gebäude auf dem Gelände der Columbia University in Manhattan gestürmt. Mit einem zweiten Protestbanner tauften sie es in Hind’s Hall um, nach Hind Rajab, einem sechsjährigen palästinensischen Mädchen, das im Krieg in Gaza ums Leben gekommen war.

Am späten Abend begannen Hundertschaften der New Yorker Polizei mit voller Schutzausrüstung, das Gebäude zu räumen. Damit endete der Versuch einer selbst ernannten Friedensbewegung, einen Protest zur Eskalation zu bringen, der Ermüdungserscheinungen zu zeigen beginnt.

In Chapel Hill in North Carolina holten Demonstranten die US-Fahne ein, den Star-Spangled Banner ersetzten sie mit der palästinensischen Fahne – eine Provokation, die Scharmützel mit der Polizei nach sich zog. In Richmond antworteten die Ordnungshüter mit Tränengas, als sie mit Wasser und Gegenständen beworfen wurden. Auf der entgegengesetzten Seite des Landes, in Portland, verbarrikadierten sich Aktivisten in einer Bibliothek der Oregon State University.

Prüfungszeit und scharfe Sanktionen

Weiter südlich hingegen endete am Morgen die Besetzung eines kalifornischen Universitätsgebäudes mit der Festnahme von 25 Personen. Auch an der Columbia University lichteten sich die Reihen der Demonstrierenden, in Yale und Pittsburgh lösten sich die Protestcamps ganz auf. An den meisten Universitäten ist die Unterrichtszeit zu Ende, die Prüfungssaison hat begonnen. Scharfe Sanktionen der Universitätsleitungen scheinen dazu beizutragen, die Proteste allmählich zum Erlahmen zu bringen. Einzig an der Brown University rangen die Protestierenden der Administration das Zugeständnis ab, ihre Forderungen zu prüfen.

Den Besetzern der Hamilton Hall drohte die Universitätsleitung am Dienstag mit dem Ausschluss. Sie sollen einer Untergruppe der Protestbewegung angehören, die sich Columbia University Apartheid Divest nennt. Sowohl mit ihrem Namen als auch mit der Wahl der Hamilton Hall und des Besetzungsdatums versucht sie, an die Protestgeschichte der Schule der elitären Ivy League anzuknüpfen.

Die Hamilton Hall war 1968 zum Brennpunkt des Widerstandes gegen den Vietnam-Krieg geworden. Genau vor 56 Jahren, am 30. April, hatten Polizisten das Gebäude durch unterirdische Tunnels gestürmt. In den 1980er-Jahren führten die Studierenden von Columbia den Boykottaufruf gegen das rassistische südafrikanische Apartheid-Regime an. Jüngst erreichten sie, dass die Universität ihre Aktien von US-amerikanischen Gefängnisbetreibern abstieß und sich von Investitionen in Öl- und Gasfirmen verabschiedete.

Nun verlangen die Demonstrierenden, dass die Universitäten auch ihre akademischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Israel kappen. Das betrifft Zusammenarbeitsprogramme wie gemeinsame Studiengänge, im Fall von Columbia etwa mit der Universität von Tel Aviv.

Forderung nach Orientierung an BDS-Liste

Die Forderungen sind nicht überall dieselben, in Columbia wird auf eine Abstimmung in der Studentenschaft vom vergangenen Jahr verwiesen: Die Universität solle ihre Vermögen aus allen Unternehmen zurückzuziehen, die von israelischen Besatzungen und dem Krieg profitierten.

Orientieren solle sich die Hochschule an den Listen von BDS, kurz für Boycott, Divestment and Sanctions. Die umstrittene palästinensische Organisation setzt sich für Sanktionen gegen Israel und für den Boykott von Firmen ein, die an Verletzungen des internationalen Völkerrechts beteiligt sein sollen. BDS empfiehlt Anlegern die Aktien einer ganzen Reihe von Firmen zu veräußern, von Waffenschmieden wie General Dynamics über Automobilkonzerne wie Mercedes-Benz, Toyota oder Ford bis zur Baumaschinenfirma Caterpillar, die der israelischen Armee Kriegsgerät, Last- und Geländewagen sowie Bulldozer verkaufen.

Auf ihren Listen stehen auch Firmen wie der Google-Mutterkonzern Alphabet, der Israel Cloud-Dienste und Künstliche-Intelligenz-Technologie liefert, oder Banken mit Verbindungen nach Israel, von der BNP Paribas über die Deutsche Bank bis zur Allianz.

Vorbild von BDS und den Demonstrierenden an den US-Universitäten ist die internationale Sanktionswelle gegen die einstige Apartheid-Regierung Südafrikas. Ökonomen sind sich allerdings ziemlich einig darin, dass Kampagnen zur Deinvestition nicht besonders erfolgreich darin sind, Firmen oder gar Länder wirtschaftlich unter Druck zu setzen. Ihre größte Wirkung besteht darin, Öffentlichkeit herzustellen.

Ausnahmen gibt es: Die Gefängnisbetreiber in den USA etwa hatten mit steigenden Kapitalkosten zu kämpfen, allerdings erst, als sich auch große Banken als Aktionäre verabschiedeten. Hingegen würde es sich zum Beispiel beim zwei Billionen Dollar schweren Alphabet-Konzern nicht einmal bemerkbar machen, falls sich sämtliche US-Universitäten von Aktien trennen sollten.

Ein Boykott von Israel hätte aber sehr wohl das Potenzial, sich negativ auf die Universitäten auszuwirken. Sie verwalten ansehnliche Vermögen, die zehn reichsten beziffern sie derzeit auf 260 Milliarden Dollar, angehäuft durch Spenden und Studiengebühren – zur Finanzierung von Forschung, Löhnen, Gebäudeunterhalt und nicht zuletzt Stipendien. Die Columbia University weist 13,6 Milliarden Dollar an Vermögen aus, angelegt in diversen Fonds und Unternehmen, wo genau, ist nicht bekannt. Ein Ausstieg aus geächteten Aktien würde einen höheren Verwaltungsaufwand und potenziell tiefere Renditen nach sich ziehen.

Das Existenzrecht Israels wird infrage gestellt

Die auf internationalen Wettbewerb ausgerichteten US-Universitäten sind überdies auf weitere Beiträge angewiesen; sie könnten es sich kaum leisten, israelfreundliche Spender zu vergraulen. Einen Gegenboykott etwa erfuhr der Unilever-Konzern, als dessen Tochter Ben & Jerry’s ihr Eis nicht mehr in besetzten Gebieten verkaufen wollte. Sollte sich Columbia University Apartheid Divest durchsetzen, könnte ihrer Schule ähnliches widerfahren.

Die Protestgruppe präsentiert sich zwar als friedfertig, stellt in Abrede, antisemitisch zu sein, und beteuert, sich gegen Islamophobie, Homophobie und eine ganze Reihe weiterer Übel zu engagieren. Mit dem Intifada-Banner an der Hamilton Hall scheint aber zumindest ein Teil der Gruppe zu Gewalt gegen Israel und gegen Juden aufzurufen. Jüdische Studenten hatten zuvor von Anfeindungen und Drohungen berichtet.

Alles andere als friedfertig liest sich auch ein Beitrag in der Universitätszeitschrift, in dem sich die Bewegung im vergangenen November vorstellte, unterzeichnet von 94 weiteren Organisationen. Die Gruppe stellt darin implizit das Existenzrecht Israels infrage und macht das Land für die aktuelle Lage verantwortlich. Weder Hamas noch deren Terroranschlag aus Israel mit 1200 Toten ist ihnen eine Zeile wert. Der Beitrag beginnt mit einem Zitat von Ghassan Kanafani, einem der bekanntesten palästinensischen Schriftsteller. Und Sprecher der Terrorgruppe PFLP, die unter anderem 1972 am Flughafen von Tel Aviv ein Massaker mit 26 Toten und 80 Verletzten anrichtete.

Die Vorfälle an den Universitäten versuchen die Republikaner politisch auszunutzen. Am Dienstag musste Bildungsminister Miguel Cardona vor einem Senatsausschuss aussagen. Der Antisemitismus an den Hochschulen sei abscheulich, sagte er. Es liefen 130 Untersuchungen wegen Klagen über Belästigung. Die Proteste holen nun auch Präsident Joe Biden ein, der sich 1968 von den Anti-Vietnam-Protesten in der Hamilton Hall fern hielt. Die New York Times erinnerte an Bidens Beschreibung, er habe damals Jura studiert und ein Sakko getragen.

Inzwischen im höchsten Amt angekommen, versucht Biden nun einen Mittelweg zu finden und Verständnis sowohl für proisraelische als auch für propalästinensische Demonstranten zu zeigen: Er betreibt eine israelfreundliche Politik, was ihm Kritik einträgt von jenen jungen und linken Wählern, auf deren Stimmen er bei der Präsidentschaftswahl im November angewiesen sein wird.

Es sei falsch, ein Gebäude zu besetzen, ließ er am Dienstag via Sprecher John Kirby ausrichten: “Das ist kein Beispiel von friedlichem Protest.” Der Minderheitsführer der Republikaner, Mitch McConnell, warf ihm umgehend vor, “die Gefühle seiner Anhänger stärker zu gewichten als moralische Klarheit”.



Source link www.sueddeutsche.de