Berlin. Gemessen an der ganzen Aufregung, der „Affäre“, die der Cicero aufgedeckt haben will, dem „Skandal“, den die Bild herbeischreibt und dem „Beben“, über das die Welt berichtet, gibt sich Robert Habeck am Freitagmorgen fast schon aufreizend gelassen. Mit Händen in den Hosentaschen und leicht wippend wartet er am frühen Morgen im Paul-Löbe-Haus neben dem Berliner Reichstag auf den Beginn der Sondersitzung des Bundestagsausschusses für Klimaschutz und Energie. Einziger Tagesordnungspunkt: die Befragung des Ministers für Wirtschaft und Energie. Er freue sich darauf, sagt Habeck. Die Vorbereitungen der Fernsehleute für die folgenden Live-Schalten kommentiert er mit einem Scherz. „Strom ist jedenfalls genug da.“

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Dass ihm dieser Satz so locker über die Lippen kommt, ist aus Habecks Sicht Erfolg seiner Arbeit. Und es ist ein wichtiger Teil seiner Verteidigungsstrategie. Nach dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs gab es in Deutschland weder einen Strommangel noch Blackouts. Trotz leergelaufener Gasspeicher, trotz zerstörter Ostseepipelines und trotz der Abschaltung der letzten drei deutschen Atomkraftwerke. „Ein Jahr nach dem Atomausstieg müssen wir einmal festhalten, dass sich alle Unkenrufe nicht bewahrheitet haben“, sagt Habeck. Die Energieversorgung sei gesichert, die Strompreise auf dem Weg nach unten, die Gasspeicher voll. „Wir sind super durch die Krise gekommen“, findet der Vizekanzler.

Cicero wirft Habeck Trickserei vor

Die Opposition und auch Teile der mitregierenden FDP sehen das nicht ganz so begeistert. Sie fragen sich schon lange, ob Deutschland nicht besser durch die Krise gekommen wäre, wenn Habeck und sein Wirtschaftsministerium frühzeitig eine Laufzeitverlängerung für die verbliebenen drei deutschen Kernkraftwerke auf den Weg gebracht hätten. Eine Veröffentlichung des Magazins „Cicero“ vom Donnerstag hat diesen Zweifeln nun neue Nahrung gegeben. Das Magazin hatte die Bundesregierung erfolgreich auf Herausgabe einer Reihe interner Dokumente und E-Mails zum Atomausstieg verklagt. Auf deren Grundlage wirft es Habecks Wirtschaftsministerium sowie dem von seiner grünen Parteikollegin Steffi Lemke geführten Umwelt-Ressort vor, bei der Prüfung einer möglichen Laufzeitverlängerung getäuscht und getrickst zu haben, um ein politisch genehmes Ergebnis zu bekommen.

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Das wäre brisant, denn Habeck hatte im Frühjahr 2022 eine ideologiefreie Prüfung der Frage versprochen, ob und wenn ja zu welchen Bedingungen ein Weiterbetrieb der Atommeiler bei der Bewältigung der Energiekrise helfen könnte. Habeck hatte nach Abschluss der Prüfung für das Vorhalten einer „Einsatzreserve“ plädiert, währen die FDP den Weiterbetrieb einschließlich der Bestellung neuer Brennstäbe gefordert hatte. Nach langem Streit setzte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) per Machtwort einen Kompromiss durch: Neue Brennstäbe wurden nicht bestellt, die Kraftwerke aber blieben bis April 2023 am Netz, um die Versorgungssicherheit im Winter zu erhöhen. Nach allem, was man weiß, war Habeck das Machtwort des Kanzlers ganz recht. Es ersparte ihm den Konflikt mit Teilen seiner Partei.

Das Magazin Cicero glaubt nun herausgefunden zu haben, dass es Kräfte im Hintergrund gab, die eine solche Entscheidung unbedingt verhindert wollten. „Grüne Parteisoldaten“ in den Ministerien hätten aktiv dagegen gearbeitet und missliebige Einschätzungen der Fachebenen wahlweise ignoriert, zurückgehalten oder manipuliert. Vor allem den inzwischen von Habeck entlassenen Wirtschaftsstaatssekretär Patrick Graichen und dessen Umweltkollegen Stefan Tidow hat das Magazin dabei im Blick. Habeck und seine Umwelt-Kollegin Lemke, so der Vorwurf, seien von den eigenen Leuten in die Irre geführt worden und hätten danach auch die Öffentlichkeit falsch informiert.

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Habeck: Fragen intensiv mit den Kraftwerksbetreibern erörtert

Habeck selbst, das macht er am Freitag klar, hält diese These für ziemlichen Unsinn. „Proaktiv“ hätten er und sein Ministerium die Debatte über einen möglichen Weiterbetrieb der Kraftwerke geführt, sagt der Minister. Schon vor Kriegsbeginn sei man deshalb auf die Kraftwerksbetreiber zugegangen. Deren ursprüngliche Einschätzung, dass die verbliebenen Brennelemente nur bis Jahresende 2022 reichen würden, habe sich im Laufe des Sommers verändert, und deshalb habe man die Debatte über eine Laufzeitverlängerung noch einmal aufgenommen und am Ende positiv beschieden.

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„Die Annahme, dass da eine Art Geheimwissen wäre, das mich nicht erreicht hätte, ist falsch“, betont Habeck. Die in den nun veröffentlichten Schriftsätzen von Ministeriumsreferenten diskutierte Frage, ob eine Laufzeitverlängerung der Atommeiler beim Einsparen von Gas hilfreich sein könnte, sei ausdrücklich auch seine gewesen, sagt Habeck. Er habe sie intensiv mit den Chefs der Kraftwerksbetreiber erörtert. Das alles sei schriftlich mit konkreten Daten dokumentiert und werde nun den Abgeordneten vorgelegt.

Die Verteidigungslinie ist clever. Denn sie baut auf etwas auf, das auch in der Opposition niemand ernsthaft bestreiten kann. Dass ein Minister im Zweifel nicht auf das Briefing seiner Referenten angewiesen ist, sondern sich Erste-Hand-Informationen aus hochrangigen Quellen besorgen kann – und das gerade in krisenhaften Lagen auch tut. Allein dadurch fällt ein großer Teil der Cicero-Recherche in sich zusammen. Wenn der Minister besser informiert war als seine Fachleute – wo ist dann der Skandal?

Listian Chrindner

„Der einzige Vertreter der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hier, das bin ich“

Finanzminister und FDP-Chef Christian Lindner erklärt im RND-Interview, warum er es für gerecht hält, den Soli abzuschaffen und zugleich die Bedingungen beim Bürgergeld zu verschärfen. Er kündigt eine Anhebung des Kindergelds und Entlastungen bei der Einkommenssteuer an. Außerdem begründet er, warum er gegen eine Neuregelung von Schwangerschaftsabbrüchen ist.

FDP: „Völlig logisch, wie er entschieden hat“

Zumindest bei der FDP scheint diese Argumentation zu verfangen. Nachdem deren energiepolitischer Sprecher Michael Kruse noch am Donnerstag verkündet hatte, „enttäuscht“ von Habeck zu sein, weil das Land in der Atomfrage „hinter die Fichte geführt worden“ sei, rudert der klimapolitische Sprecher Olaf in der Beek nach der Befragung deutlich zurück. „So wie der Minister es heute dargestellt hat, ist es völlig logisch, wie er entschieden hat“, sagt der FDP-Mann in die Kameras. Er habe keinen Grund, Robert Habeck nicht zu glauben.

Auch Habecks Kabinettskollegin Steffi Lemke scheint bei ihrer Befragung im Umweltausschuss nicht in Erklärungsnot zu kommen, auch wenn sie vor und nach der Sitzung etwas angespannter als er wirkt. Atomkraft sei eben eine Hochrisikotechnologie, weshalb jede sicherheitsrelevante Entscheidung gründlich geprüft werden müsse, sagt die für Nuklearsicherheit zuständige Ministerin. „Mir geht es darum, dass wir die nukleare Sicherheit in unserem Land jederzeit gewährleisten können.“

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Der Union reichen die Antworten nicht. Es gebe noch ungeklärte Fragen, sagt CDU-Wirtschaftspolitiker Tilman Kuban dem RND. „Klar ist: Habeck muss sein Haus neu aufstellen, damit das Wirtschaftsministerium wieder zum Hüter faktenbasierter sozialer Marktwirtschaft wird“. Auffallend zurückhaltend äußert sich die SPD. Fraktionsvize Dirk Wiese kommentiert die Aufregung mit einem Rat an die Kolleginnen und Kollegen: „Mal ein bisschen entspannter sein.“



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