Als 2005 Frédéric Charpiers Buch Génération Occident erschien, löste das in Frankreich einen kleinen Skandal aus. Die Ursache dafür konnte man schon dem Text der Banderole entnehmen, die der Verlag Éditions du Seuil als Werbemaßnahme dem Umschlag hinzugefügt hatte und die drei Namen zeigte: Devedjian, Longuet, Madelin. Gemeint waren zwei führende gaullistische Politiker – Patrick Devedjian und Gérard Longuet – sowie Alain Madelin, der langjährige Vorsitzende der Partei Démocratie libérale.

Sie alle hatten steile Karrieren gemacht und Ministerposten bekleidet, aber ihr politischer Weg begann in den Reihen des Mouvement Occident (MO). Es ging dabei um eine zahlenmäßig kleine Gruppe nationalistischer Gymnasiasten und Studenten – die Zahlenangaben schwanken zwischen 100 und 1.500, wahrscheinlich dürften 600 bis 800 sein –, die sich am 23. April 1964 gebildet hatte.

Ausgabe von Occident-Université mit dem Bild Sidos', 1965
Ausgabe von Occident-Université mit dem Bild Sidos‘, 1965 Foto: Weißmann

Kurz zuvor waren die Gründungsmitglieder von der Fédération des étudiants nationalistes (FEN) wegen „Disziplinlosigkeit“ ausgeschlossen worden, weil sie sich der Führung von Pierre Sidos unterstellt hatten. Ihr „Mentor“ (Frédéric Charpier) war der Mann, der nach Kriegsende und Befreiung ebenso zäh wie erfolglos versuchte, das Lager der radikalen Rechten zusammenzufassen: zuerst in dem Verband Jeune Nation (JN), dann im Parti Nationaliste (PN).

Generationenunterschied führte zu Verschiebung

Beide waren wegen Staatsfeindlichkeit verboten worden, weshalb Sidos den MO als willkommene Möglichkeit betrachtete, zu einer neuen organisatorischen Basis zu kommen. Auf seine Initiative dürfte auch die Verwendung des Keltenkreuzes durch die „Occidentalistes“ zurückzuführen sein, das schon JN und PN als Symbol genutzt hatten.

In den Reihen seiner jugendlichen Anhänger scheint es gegenüber der von Sidos vertretenen Linie keine Vorbehalte gegeben zu haben. Viele entstammten zudem Familien, in denen man mit seiner Art von Nationalismus sympathisierte, der am Ende des 19. Jahrhunderts entstanden war, samt Bekenntnis zur katholischen Überlieferung, Haß auf die kosmopolitische Linke und die Freimaurerei, den „Zionismus“ und das allgemeine Wahlrecht. Die Republik wurde verachtet, die Nostalgie galt dem Empire, dem untergegangenen Kolonialreich, vor allem Französisch-Algerien, die Zukunft sollte einem autoritären, korporativ verfaßten „organischen Staat“ gehören.

Allerdings machte sich wegen des Generationenunterschieds zwischen Sidos und dem MO eine Akzentverschiebung bemerkbar, wenn es um die Frage ging, wie eine „zweite Französische Revolution“ aussehen werde. Sidos hoffte im Grunde auf einen Staatsstreich, während der MO die Direkte Aktion bevorzugte. Militanz war im Frankreich der 1960er Jahre weniger eine Frage der Weltanschauung, eher eine Frage des Alters.

Dann wurden tote Ratten geworfen

„Fachos“ und „bolchos“ trennt zwar die Überzeugung, aber sie verband eine Mentalität. Einer der Ehemaligen aus den Reihen der Rechten meinte später: „Da war das Ende von Algerien, die schreckliche Enttäuschung für meine Generation – ich, der ich Marineoffizier werden wollte –, daß die Entkolonialisierung vollzogen war. […] Aber ich hätte genau auf die gleiche Weise Trotzkist werden können, um ehrlich zu sein.“ (Claude Goasguen)

Was die Militanten trieb, war Widerwille gegen das feige Bürgertum und die Bereitschaft zur gewaltsamen Auseinandersetzung. Als erster öffentlicher Auftritt des MO gilt bezeichnenderweise der Angriff auf ein Parteibüro der Kommunisten im 5. Pariser Arrondissement am 7. Mai 1965. Kurz danach attackierte man eine Veranstaltung des Comité anticolonialiste. Anfang 1966 erregte Jean Genets Stück Les Paravents die Wut des MO, weil es die französischen Streitkräfte beleidigte. Man protestierte vor dem Théâtre de l´Odéon unter der Parole „Ehre der Armee!“.

Dann wurden aus dem Zuschauerraum tote Ratten in Richtung der Schauspieler geschleudert, bevor ein „Kommando“ die Bühne stürmte und die Aufführung abgebrochen werden mußte. In der Folge setzte man das Theater so unter Druck, daß es das Stück zurückzog. Erhebliches Aufsehen erregte auch eine – von der Polizei verbotene – Demonstration vor der sowjetischen Botschaft aus Anlaß des zehnten Jahrestags der Niederschlagung des Ungarnaufstands am 4. November 1966.

Aktionen steigerten Bekanntheit

Verglichen damit erinnerte die Störung der Kollegs des Professors Maurice Duverger – eines prominenten Sozialisten – eher an ein linkes Go-in: Der ehemalige Funktionär des faschistischen Parti populaire française (PPF) wurde an seine Vergangenheit schmerzlich erinnert, wenn einige junge Männer den Arm zum Römischen Gruß reckten, die alte Parteihymne sangen und zehn Minuten lang den Namen des PPF-Führers „Doriot! Doriot!“ skandierten.

Die Bekanntheit des Mouvement Occident hatte ganz wesentlich mit derartigen Aktionen und der Tatsache zu tun, daß er die Straßen des Quartier Latin beherrschte. An ideologischer Arbeit war man dagegen kaum interessiert. Es gab eine hektographierte Zeitschrift mit dem Titel Occident université, die aber nur in unregelmäßigen Abständen erschien und deren Beiträge keinen Anspruch auf Originalität erhoben. Man war fixiert auf die „Tat“ und insofern durchaus bereit, die Beschimpfung als „Faschist“ wie einen Ehrentitel zu nehmen, wenn „Faschismus“ verstanden wurde als „Ausdruck eines Nationalismus, der allein […] den Willen der Jugend in einem außerordentlichen revolutionären Elan“ zusammenfassen könne.

Vietnam stand im Mittelpunkt

Verglichen mit diesem jeunisme mußte Sidos eher zögerlich und bourgeois wirken, und nach dem Scheitern des Präsidentschaftskandidaten der anti-gaullistischen Rechten Jean-Louis Tixier-Vignancour kam es zum Bruch. In das Mitte des Jahres 1966 gewählte Zentralsekretariat des MO wurde Sidos nicht mehr aufgenommen. Offensichtlich war die neue Spitze des Mouvement Occident entschlossen, der Parole „Den Westen verteidigen, wo immer er sich schlägt!“ einen neuen Akzent zu geben.

Armbinde und Abzeichen des MO
Armbinde und Abzeichen des MO Foto: Weißmann

Daher konzentrierte sie die Arbeit vor allem auf Vietnam. Ein Engagement, das mit der Vergangenheit Indochinas als Überseegebiet Frankreichs zu tun hatte, sich aber vor allem aus der Vorstellung speiste, daß hier der Endkampf gegen den Kommunismus ausgefochten werde. Der Solidarität der Linken mit dem Vietcong entsprach auf der eigenen Seite die Solidarität mit Südvietnam und dessen Schutzmacht, den USA. Allerdings sollte der Sturm des MO auf ein linkes Vietnam-Camp in Rouen im Januar 1967 einen unerwarteten Rückschlag zur Folge haben. Denn bei dem Angriff wurden zwanzig Personen zum Teil schwer verletzt. Die Polizei mußte einschreiten, es kam zu Verfahren gegen die Täter und zur Verurteilung der eingangs erwähnten Devedjian, Longuet und Madelin.

Die begannen sich daraufhin allmählich von der Gruppe zu distanzieren. Gleichzeitig brach innerhalb des MO eine Art Paranoia aus. Die Mitglieder verdächtigten einander, für den Geheimdienst oder den Gegner zu arbeiten. Man setzte zwar die Vorstöße in gewohnter Art und Weise fort, aber während die gauchistes in der jungen Generation mit wachsender Zustimmung rechnen durften, stagnierte die eigene Bewegung.

Eroberung der linken Universitäten scheiterte

Faktisch gab es außerhalb der Metropole nur im Süden einige arbeitsfähige Gruppen. Der MO hielt zwar seine Position in Paris-Assas, der traditionsreichen juristischen Fakultät der Sorbonne, aber die neugegründete Universität Paris-Nanterre war längst eine Hochburg der Linken, die jeden Vorstoß der Nationalisten auf ihr Terrain gewaltsam unterband.

Nanterre gehörte 1968 zu den Zentren des „Roten Mai“, der prompt zur Besetzung der Hochschulgebäude durch die rebellischen Studenten führte. Eine Eskalation der Lage, auf die der Mouvement Occident eher hilflos reagierte. Pläne zur „Rückeroberung“ der Universität erwiesen sich rasch als undurchführbar. Viele Anhänger kehrten sich ab, während eine Minderheit in einer Art „Querfront“ mit den Linken die Barrikaden besetzte, um das „System“ zu stürzen, und eine dritte Gruppe den Gaullisten und den Vertretern der Staatsmacht näherkam.

Wie weit diese Fühlungnahme ging, ist schwer einschätzbar. Von François Duprat, der damals zur Führung des MO gehörte, stammt die Behauptung, daß hochrangige Militärs angeboten hätten, bei der „Säuberung“ der Universitäten Hilfe zu leisten, und gleichzeitig zu klären suchten, ob sich die Nationalisten im Fall eines linken Umsturzes an die Seite der Armee stellen würden. Praktische Folgen hatten diese Sondierungen aber nicht. Was vor allem darauf zurückzuführen war, daß die Revolte der Pariser Studenten schneller als erwartet in sich zusammenfiel.

Maoistische Buchhandlung wurde abgefackelt

Mancher glaubte, daß nun alles wieder werden würde wie zuvor. So griffen Aktivisten des MO am 27. Oktober 1968 das Büro einer linken Lehrergewerkschaft und dann die Redaktion der Zeitung Action an, die zu den wichtigsten Organen der französischen „Achtundsechziger“ gehörte. Die Vergeltung ließ nicht lange auf sich warten. Maoistische und anarchistische Gruppen verwüsteten das Café Relais-Odéon – den Treffpunkt des MO –, verschütteten Benzin aus mehreren Kanistern und warfen einen Molotowcocktail.

Kurz darauf ging eine maoistische Buchhandlung in Flammen auf, während eine anarchistische Gruppe die rechte Librairie française anzuzünden suchte. Danach scheint die Geduld der Behörden erschöpft gewesen zu sein. War der Mouvement Occident bei der Welle von Verboten am 12. Juni 1968 noch ausgenommen worden, so erging am 31. Oktober ein Dekret des französischen Innenministers, das die Gruppierung auflöste und die Fortsetzung ihrer Tätigkeit untersagte.

Im Jahr 2014, pünktlich zum 50. Jahrestag der Gründung des Mouvement Occident, wurden dessen ehemalige und nun zu Prominenz gelangten Mitglieder noch einmal mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. In der Regel wiegelten sie ab oder betonten ihre Läuterung. Allerdings meinte der eine oder andere etwas gereizt, daß die Bewertung der beiden Sorten „Achtundsechziger“ auf eine ermüdende Weise doppelte Maßstäbe anlege: „Wenn man von der extremen Linken spricht, ist alles nett. Aber sobald man von der extremen Rechten spricht, gibt es Gewalt und Eisenstangen.“ (Alain Robert)

Vorläufer des Rassemblement National

Interessanter als dieser Aspekt historischer Ungerechtigkeit ist der von Charpier hervorgehobene Sachverhalt, daß der Mouvement Occident während einer Inkubationszeit entstand, die in Frankreich zum Ende der Alten und zum Aufkommen einer Neuen Rechten führte, zur Entstehung einer militanten Szene und zur Geburtsstunde des Rechtspopulismus.

Letztes, erst nach dem Verbot fertiggestelltes Plakat des MO, 1968
Letztes, erst nach dem Verbot fertiggestelltes Plakat des MO, 1968 Foto: Weißmann

Was die erste Gruppierung angeht, bestand sie vor allem aus der Gefolgschaft Sidos‘ und den unbeugsamen Royalisten der Action française (AF). Die zweite formierte sich um Dominique Venner – ursprünglich auch ein Gefolgsmann Sidos‘ – und den seinerseits aus der FEN hervorgegangenen Groupement de Recherche et d’études sur la civilisation européenne (GRECE). Dagegen wirkten die Groupe Union Droit (GUD) und die unübersichtliche Szene der Solidaristen wie eine Neuauflage des MO.

Allerdings hatten viele seiner Mitglieder begriffen, daß Einsatzbereitschaft allein kaum genügte. Wer nicht ins bürgerliche Lager abwanderte, unterstützte in Zukunft eine Parteiorganisation auf breiterer Basis: zuerst die des Ordre Nouveau (ON), dann die des Parti des Forces nouvelles (PFN), dann die des Front National (FN), heute bekannt als Rassemblement National (RN).



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