Interview
Die französisch-palästinensisch-algerische Filmemacherin und Schauspielerin Lina Soualem, in Paris geboren und aufgewachsen, hat an der Sorbonne Politikwissenschaft studiert. Ihr erster Dokumentarfilm »Their Algeria« wurde mit zahlreichen Preisen wie dem First Film Award beim CINEMED Montpellier International Festival of Mediterranean Film ausgezeichnet. Ihr zweiter Dokumentarfilm »Bye Bye Tiberias« feierte 2023 auf dem Venice International Film Festival Premiere, gewann unter anderem den Best Documentary Film auf dem London Film Festival und eröffnet in diesem Jahr das Arabische Filmfestival ALFILM in Berlin. Als Schauspielerin ist sie bekannt durch Filme und Serien wie »The Visitor«, »Blade Runner 2049« und »Succession«; Lina Soualem ist für den Emmy nominiert.
Frau Soualem, in Ihrem zweiten Dokumentarfilm widmen Sie sich der weiblichen Linie Ihrer Familie: Ihrer Mutter, Großmutter, Urgroßmutter und Ihren Tanten in Palästina. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, diese Frauen zu porträtieren?
Für mich war dieser Film eine Weiterführung meines ersten Films »Their Algeria«, in dem es um meine Familie väterlicherseits ging, die aus Algerien stammt. Auch auf der mütterlichen Seite wollte ich mich der Überlieferung von Geschichten von Generation zu Generation widmen. Als ich die Familienvideos noch einmal anschaute, die mein Vater in den Neunzigern auf VHS aufgenommen hatte, bemerkte ich die starke Präsenz von Frauen. Meine Mutter hat neun Geschwister, darunter sieben Schwestern. Ich erkannte, wie viel ich von meiner Großmutter und Urgroßmutter mitbekommen habe. Es fühlte sich an, als käme alles, was ich über Palästina weiß, von ihnen. Sie waren die Wächterinnen des familiären Gedächtnisses. Auch meine Mutter hat eine starke Verbindung zu ihnen, obwohl sie schon als junge Frau ins Ausland gegangen ist. Nachdem ich geboren wurde, ist sie immer wieder mit mir nach Palästina gefahren. Es war für sie wichtig, dass ich von diesen Frauen umgeben war.
Ihre Mutter Hiam Abbass ist eine international erfolgreiche Schauspielerin. Wie war es für sie, in einem Film mitzuwirken, bei dem die Tochter Regie führt?
Es war nicht einfach. Sie spielt normalerweise in fiktionalen Filmen und drückt ihre Gefühle durch die Geschichten anderer Menschen aus. Sie ist nicht daran gewöhnt, über sich selbst zu sprechen. In meinem Film geht es um meine Mutter als Frau und als Palästinenserin, nicht als Schauspielerin. Wir haben einige Zeit gebraucht, bis wir ein Gleichgewicht fanden. Für mich war es schwer, sie in meiner Rolle als Regisseurin anzusprechen und nicht als Tochter. Wir beide haben aber verstanden, dass das Ganze über unsere eigene Beziehung hinausgeht. Wir sind Teil einer größeren Geschichte von Erinnerungen und deren Übermittlung durch Frauen, die nie über sich gesprochen haben – und deren Erfahrungen nie anerkannt wurden.
Haben Sie Dinge über Ihre Mutter erfahren, die Sie überraschten?
Ja, ich wusste zum Beispiel nicht, dass meine Mutter in ihrer Jugend Gedichte geschrieben hat. Ich fand auch Gedichte, die mein Großvater für meine Großmutter geschrieben hat. Das alles hat mich sehr berührt. Mir wurde bewusst, dass ich nicht die Einzige bin, die unsere verstreute und fragmentierte Geschichte einfangen wollte. Ich führte etwas fort, das andere schon begonnen hatten. Es hat mich auch sehr beeindruckt, dass meine Mutter schon immer die Sehnsucht hatte, mehr zu erfahren über ihre Herkunft und Grenzen überwinden wollte. Sie ist sich ihrer palästinensischen Identität und der historisch-politischen Situation ihres Volkes sehr bewusst.
Die Gedichte Ihrer Familie sind auf Arabisch, einer Sprache, die Sie fließend sprechen, aber nicht schreiben. Mit Ihrer Mutter wechseln Sie im Gespräch je nach Situation zwischen Französisch und Arabisch.
Meine Mutter und ich kommunizieren in zwei Sprachen. Ich kann nicht auf Arabisch lesen und schreiben und meine Mutter hat Französisch spät im Leben gelernt, beherrscht die Sprache also nicht komplett. Das ist aber kein Problem. Denn aus diesen zwei Sprachen entsteht eine dritte, die uns bereichert. Wenn man mehrere Sprachen spricht, hat man Zugang zu einer größeren Vielfalt an Vorstellungen, Wahrnehmungen, Gefühlen, Werten, literarischen und kulturellen Referenzen.
Inwieweit hat Sie das Aufwachsen mit unterschiedlichen Kulturen, Sprachen und historischen Erzählungen als Filmemacherin geprägt?
Das macht mich als Mensch aus. Für mich ist es eine Bereicherung, Zugang zu verschiedenen Sprachen, Kulturen, Realitäten, Wahrnehmungen und Lebensgeschichten zu haben – darunter Erinnerungen an Kämpfe gegen den Kolonialismus, Unterdrückung, Entmenschlichung, Marginalisierung. Das ist ein Erbe, das mich begleitet und leitet. Weil all diese Geschichten jedoch nicht im offiziellen kulturellen Gedächtnis verankert sind, empfinde ich es als eine Verpflichtung, meiner Familie und anderen Migrant*innen aus Palästina und Nordafrika einen Platz in der Geschichtsschreibung zu sichern. Auch um der Stigmatisierung zu begegnen, der sie in den Medien ausgesetzt sind. In der Öffentlichkeit werden sie meist in negativem Licht betrachtet, was meilenweit von der Realität entfernt ist. Das ist schwer zu ertragen, weil alles, was wir als Kinder von ihnen mitbekommen haben, positiv ist. Sie wurden enteignet, unterdrückt und gedemütigt. Und trotzdem waren sie fähig, ihre Kinder in Europa großzuziehen und ihnen Liebe und Werte wie Vergebung und Respekt mitzugeben.
In Ihren beiden Filmen geht es um Migration, Exil und um den Verlust von Heimat. Wie unterscheiden sich die palästinensischen und algerischen Perspektiven auf die eigene Vergangenheit?
Mir war es wichtig, die Geschichten in den eigenen Worten der Menschen zu erzählen – in einer Sprache, die ihren Empfindungen entspricht. Meine algerische Familie hat durch Schweigen überlebt. Es war ein Schweigen, das das Leiden der Entwurzelung ausdrückt. Dieses Schweigen wollte ich in meinem ersten Film aufbrechen. Meine palästinensische Familie hingegen überlebte durch das Erzählen von Geschichten. Worte ermöglichten ihnen, nicht in Vergessenheit zu geraten. Die Geschichten waren fragmentiert, handelten von Enteignung, Vertreibung und Familien, die getrennt wurden. Es ist schwer, das auf eine lineare Art zu erzählen, weil es so viele Brüche gab.
Wie kann man diese in einem Film zusammenführen?
Bei »Bye Bye Tiberias« habe ich versucht, unsere Geschichte aus all diesen unterschiedlichen Erfahrungen zu einem Ganzen zusammenzufügen – als ob ich ein Puzzle rekonstruieren würde, damit wir alle an einem Ort, in einer Zeit existieren können. Im Film kann man Utopien kreieren und überlegen, wie es gewesen wäre, wenn meine algerische Familie nicht die Kolonialzeit hätte erleben müssen oder meine palästinensische Familie nicht im Krieg von 1948 aus Tiberias vertrieben worden wäre.
Für mich ist es wichtig, Menschen in ihrer ganzen Komplexität zu betrachten und nicht nur darüber zu definieren, was sie durchgemacht haben. Ich wollte Möglichkeiten finden, damit die Frauen ihre individuellen Geschichten in all ihrer Komplexität in Form von Poesie, Imagination und Gelächter erzählen können. Denn auf diese Weise wurden sie uns als Kinder und Enkel weitergeben. Jedem Menschen Platz zu geben, trägt zur Humanisierung bei. Denn auf diese Weise werden Menschen nicht mehr als Masse wahrgenommen, sondern als Individuen mit ihren eigenen Sehnsüchten.
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