Bevor Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Montag zu seinem Staatsbesuch in Istanbul landet, begrüßte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan einen anderen Gast: Im Dolmabahce-Palast am Ufer des Bosporus empfing Erdogan am Samstag Ismail Hanija, den Auslandschef der radikal-islamischen Hamas. Nach Lesart der EU ist die Hamas eine Terrororganisation. Erdogan verherrlicht sie als „Befreiungsbewegung“ und versichert ihr seine „volle Unterstützung“. Ein kritisches Wort zum Massaker der Hamas am 7. Oktober ist Erdogan bis heute nicht über die Lippen gekommen. Bei dem Angriff wurden etwa 1200 Menschen getötet und 253 verschleppt.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Die Aufwartung des Hamas-Chefs bei Erdogan zeigt beispielhaft das Spannungsfeld, in dem der Besuch des Bundespräsidenten stattfindet. Offizieller Anlass der Reise ist das 100. Jubiläum der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Deutschland und der türkischen Republik. Aber im Mittelpunkt des Besuchs steht nicht, was war, sondern was wird: Wie kann es in den traditionsreichen, aber auch schwierigen Beziehungen der Türkei zu Deutschland weitergehen? Unter Erdogan hat sich die Türkei immer mehr zu einem autoritären Staat entwickelt. Zehntausende politische Gefangene sitzen hinter Gittern. Gibt es dennoch Perspektiven für eine Wiederannäherung an die Europäische Union? Das will Steinmeier sondieren.

Damals war deutsch-türkische Freundschaft noch ungetrübt

Seine Reise beginnt am Montag (22. April) in Istanbul. Dort besucht er den Bahnhof Sirkeci, von dem in den 1960er-Jahren täglich türkische Gastarbeiter per Zug nach Deutschland aufbrachen. Damals war die deutsch-türkische Freundschaft noch ungetrübt. In der Bosporusmetropole trifft Steinmeier auch Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu. Der Oppositionspolitiker ist seit der überraschenden Niederlage der Regierungspartei AKP bei den Kommunalwahlen Ende März mehr denn je der Hoffnungsträger der Erdogan-Gegner.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Am Dienstag besucht der Bundespräsident die immer noch schwer von der Erdbebenkatastrophe im Februar 2023 gezeichnete Südostprovinz Gaziantep und besichtigt eine mit deutscher Hilfe wiederaufgebaute Schule. Am Mittwoch trifft Steinmeier in Ankara mit Präsident Erdogan zusammen. Bei dem Gespräch wird es um die bilateralen Beziehungen zu Deutschland, aber auch die europäische Perspektive der Türkei gehen.

Demokratie-Radar

Wie steht es um die Demokratie in Deutschland? Unser RND-Team geht dem nach – jeden Dienstag in diesem Newsletter.

EU bietet Ankara Wiederbelebung des festgefahrenen Dialogs an

Die EU bietet Ankara eine Wiederbelebung des festgefahrenen Dialogs an. Man habe ein „strategisches Interesse an einer für beide Seiten vorteilhaften Beziehung“, hieß es vergangene Woche in einer Erklärung der EU-Staats- und Regierungschefs. Das ist der Wunsch.

Die Wirklichkeit zeichnete der jüngste Türkei-Report vom November 2023 auf. Das als Fortschrittsbericht titulierte Papier konstatierte auf 18 Seiten fast nur Rückschritte. Die Situation bei den Grund- und Menschenrechten habe sich weiter verschlechtert. Der Bericht fordert von Ankara auch „entscheidende Schritte“, um sich an die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik an die EU anzugleichen.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Erdogans Rolle als Schutzpatron der Hamas

Wie krass die Gegensätze sind, zeigen Erdogans Rolle als Schutzpatron der Hamas, seine Kumpanei mit Kreml-Chef Putin sowie die völkerrechtswidrigen Kriege der Türkei im Irak und Syrien. Die Türkei bewege sich „weiter von der EU fort und habe den negativen Trend bei der Reformagenda nicht umgekehrt“, stellt der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell fest.

Dessen ungeachtet soll die EU-Kommission jetzt mit der Türkei über engere Beziehungen verhandeln, heißt es in dem Mandat des EU-Gipfels. Es kam vor allem auf Drängen Deutschlands zustande. Dabei geht es auch um eine Fortschreibung der 2016 geschlossenen Vereinbarung zur Migrationspolitik, des „Flüchtlingsdeals“.

Proteste nach Kommunalwahl in der Türkei

Im Südosten des Landes demonstrierten zahlreiche Menschen gegen eine Entscheidung der türkischen Behörden, den pro-kurdischen Wahlsieger nicht anzuerkennen.

Erdogan fordert Visa-Erleichterungen

Erdogan will sich eine Verlängerung nicht nur teuer bezahlen lassen – im Raum stehen EU-Zahlungen von vier Milliarden Euro -, sondern fordert auch Visa-Erleichterungen. Sie sollen vor allem türkischen Geschäftsleuten Reisen in die EU erleichtern. Die EU will darauf offenbar eingehen. Von den sechs Bedingungen, die Ankara dafür erfüllen muss, darunter eine Entschärfung der Anti-Terror-Gesetze, ist bisher allerdings keine einzige umgesetzt.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Auch eine Erweiterung der Zollunion kommt nun wieder auf die Tagesordnung. Davon würde nicht nur die türkische Wirtschaft profitieren, sondern mit ihr auch die rund 7700 deutschen Unternehmen in der Türkei. Das Thema wurde seit Jahren wegen der Menschenrechtsproblematik und wegen der Weigerung der Türkei, das EU-Mitglied Zypern in die Zollunion einzubeziehen, immer wieder zurückgestellt. Nun zeigt sich: Die EU scheint sich an die Demokratie-Defizite in der Türkei allmählich zu gewöhnen – ein Erfolg für den hartnäckigen Erdogan.



Source link www.ln-online.de