In der Nacht auf Sonntag schienen die Horrorszenarien für den Nahen Osten plötzlich wahr zu werden. Doch Israel und seine Verbündeten holten eine iranische Drohne nach der anderen vom Himmel – nach Militärangaben wurden mehr als 99 Prozent zerstört. Ein Erfolg, mit dem sich die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu brüsten kann, vor allem nach dem Versagen der Armee beim Hamas-Angriff am 7. Oktober. Dass am Wochenende niemand ernsthaft zu Schaden kam, dürfte aber nicht nur dem Erfolg Israels, sondern auch dem Kalkül Irans geschuldet sein.
Viele Experten vermuten, dass die Führung in Teheran genau dosiert hat, wie hart der Angriff Israel treffen sollte. Aus seinem großen Waffenarsenal schickte der Iran nur einige hundert Raketen und Drohnen los. Eine Überforderung der israelischen Luftabwehr – wie von der Hamas im vergangenen Oktober angestrebt – ist damit nicht zu erreichen. Die Nahost-Expertin Maha Yahya glaubt, dass „die Iraner wussten, dass das meiste davon gestoppt werden würde“. Dem US-Sender CNN sagte sie über den Angriff: „Es hatte sehr viel von einer Lichtshow.“
Mit seinem Plan ist der Iran aber ein großes Risiko eingegangen. Denn einzelne Raketen und Drohnen hätten jederzeit die Luftabwehr durchbrechen können, sogar ein erneutes Versagen der israelischen Armee wäre nicht ausgeschlossen gewesen. Mögliche Todesopfer dürften als Teil der brutalen Berechnung der Mullahs gewesen sein.
Langsame Drohnen haben Israel Zeit gelassen
Allerdings kam Israel die Wahl der Waffen zugute. Der Iran setzte unter anderem Kamikaze-Drohnen vom Typ „Shahed 136“ ein. Sie sind gefährlich, weil sie vor dem finalen Schlag über ihren Zielen schweben können, bis diese optimal positioniert sind. Doch die Drohnen sind nicht die schnellsten Waffen: Vom Iran nach Israel dauert ihr Flug mehrere Stunden – Zeit, in der sich Israel auf ihre Ankunft vorbereiten konnte. US-Systeme hatten den Start der „Shahed 136“ frühzeitig registriert.
Ohnehin war Israel auf einen Angriff vorbereitet. Die Bevölkerung wurde schon früh gewarnt und das Militär hatte schon vor Tagen das GPS im Land massiv gestört, um dem Iran die Zielsteuerung zu erschweren. All das war möglich, weil zum einen amerikanischen Medienberichte zufolge die CIA schon früh Hinweise darauf hatte, dass der Iran am Wochenende mit Drohnen und Marschflugkörpern angreifen könnte. Zum anderen hatte das Regime in Teheran mit seinen markigen Worten auch keine Zweifel aufkommen lassen, dass Israel mit einem Angriff rechnen müsse.
Ebenfalls für ein brutal berechnendes Vorgehen spricht die Zielauswahl des Irans: Zum einen sollten die Drohnenschwärme und Raketen auf den Golan niedergehen. Das Gebiet im Norden von Israel ist zwar symbolisch wichtig, weil Israel es 1981 von Syrien annektiert hat und seither immer wieder umkämpft ist. Es ist aber ebenso dünn besiedelt und weit weg von den Großstädten wie das zweite Ziel in der Negev-Wüste im Süden Israels. Dort befindet sich die Luftwaffenbasis Nevatim.
Der Iran hat Angst vor einem großen Krieg
Doch warum hat der Iran nur dosiert losgeschlagen, wo sein Staatsziel doch die Vernichtung Israels ist? Der Ex-Agent des Bundesnachrichtendiensts, Gerhard Conrad, vermutet im Gespräch mit FOCUS online „politischen Symbolismus“ hinter der Angriffsplanung. Die Führung in Teheran habe zur Selbstbehauptung und Selbstvergewisserung attackieren müssen, weil das Militär zuletzt herbe Verluste beklagen musste.
Ein historischer, weil erster direkter, Angriff auf Israel ist als Ausrufezeichen gut geeignet. Einen Flächenbrand im Nahen Osten will der Iran aber offenbar – noch – vermeiden. Denn dann würden wahrscheinlich die USA und andere Verbündete ein robustes Vorgehen Israels gegen das Mullah-Regime unterstützen. Das hätte zum Beispiel der Fall sein können, wenn der iranische Angriff in Jerusalem, Tel Avis oder Haifa zahlreiche Zivilistinnen und Zivilisten getötet hätte.
Die USA halten sich zurück
In der aktuellen Lage aber scheint der Iran darauf zu spekulieren, dass eine israelische Reaktion ebenfalls nur einem Nadelstich gleichkommen wird. Entsprechend machte die iranische Vertretung bei den Vereinten Nationen beim Kurznachrichtendienst X klar, dass die Attacke in der Nacht eine Antwort auf den Schlag gegen das Konsulat in Damaskus am 1. April gewesen sei. „Die Angelegenheit kann als abgeschlossen betrachtet werden.“ Und in Großbuchstaben angefügt: „DIE USA MÜSSEN FERNBLEIBEN!“
Die brutale Berechnung scheint tatsächlich aufzugehen. In amerikanischen Medienberichten heißt es, die Regierung um US-Präsident Joe Biden sei über den Angriff auf das Konsulatsgebäude verärgert gewesen, habe aber Israel Hilfe bei der Verteidigung zugesagt. Die Regierung habe Netanjahus Führung aber auch deutlich gemacht, dass es für einen künftigen Vergeltungsschlag keine Unterstützung geben werde.
Fake-Bilder aus dem Iran
Für den Iran scheint sich aktuell also alles zu fügen. Je offensichtlicher allerdings ihr Kalkül eines dosierten Schlags wird, desto eher entkräftet das die Bemühungen der Mullahs, sich als Militärmacht selbst zu vergewissern. Das Regime versucht deshalb Zweifel zum einen mit Jubelarien zu übertönen. Zum anderen setzt es auf Desinformation.
Während Israel nur von leichten Schäden auf der Luftwaffenbasis in der Negev-Wüste spricht, behauptet der Iran, das Militärgelände sei schwer beschädigt worden. Und der staatliche Sender IRINN verbreitete im Iran Bilder von einem Flammen-Inferno. Angeblich sollen die Aufnahmen zeigen, wie ein israelisches Ziel getroffen wurde. Doch am Sonntag entlarvte die israelische Regierung den Fake: Die Bilder stammen von einem Brand in Chile im Februar. Israel, in diesem Fall auch bei der Deutungshoheit in den sozialen Medien erfolgreich, ergänze den Post um eine „Erinnerung an das iranische Regime“, dass fast alle Angriffe abgefangen worden seien.