Wis­sen­schaft­le­r*in­nen haben Erfahrungen ungewollt Schwangerer in Deutschland untersucht. Die Studienleiterin über mangelnde Versorgung und sozialen Druck.

Vor dem OP-Raum steht eine Liege, im OP Raum brennt grelles Licht und ist gynäkologische Ausrüstung zu sehen

Die Versorgung von ungewollt Schwangeren ist schwierig: medizinischer Raum für Schwangerschaftsabbrüche Foto: Kerstin Rolfes

taz: Frau Hahn, Sie haben zum ersten Mal in Deutschland Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer untersucht. Jetzt liegen erste Ergebnisse vor. Was haben Sie herausgefunden?

Daphne Hahn: Mehr als die Hälfte der befragten Frauen fand es schwierig, ausreichende und gute Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen zu finden. Von denen wiederum hatte die Hälfte Angst, dass schlecht über sie gedacht wird, wenn sie einen Abbruch wollen. Fast die Hälfte wollte oder musste den Abbruch geheim halten. Beides spiegelt Stigma wider.

ist Professorin für Gesundheitswissenschaften und empirische Sozialforschung an der Hochschule Fulda und frühere Pro-Familia-Vorsitzende

Konnten denn alle ungewollt Schwangeren einen Abbruch bekommen?

Ja. Aber fast ein Drittel konnte den Abbruch nicht mit der Methode vornehmen lassen, die sie bevorzugt hätten, einer Absaugung beispielsweise oder einen medikamentösen Abbruch. Es gibt allerdings regionale Unterschiede.

Wie sehen die aus?

Unsere Daten zeigen sehr unterschiedliche Versorgungslagen innerhalb Deutschlands. In 85 von 400 untersuchten Landkreisen werden die Kriterien für eine angemessene Erreichbarkeit nicht erfüllt. Das heißt, ungewollt Schwangere können dort innerhalb von 40 Minuten keine Einrichtung erreichen, die einen Abbruch macht.

Können Sie sagen, wo die Versorgungslage hierzulande besser oder schlechter ist?

Länder mit geringerem Versorgungsgrad sind etwa Baden-Württemberg, das Saarland und Rheinland-Pfalz. Mittleren Grad haben etwa Hessen, NRW und Niedersachsen. Recht gut versorgt sind neben den Stadtstaaten auch Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt.

Wie sind Sie zu den Daten gekommen? Ein Problem ist doch, dass es viel zu wenig Daten zur Versorgungslage bei Abbrüchen gibt.

Wir können die Zahl der Einrichtungen, die Abbrüche machen, tatsächlich nicht konkret benennen. Was wir aber sagen können: Es gibt sogenannte Meldestellen, also Praxen und Kliniken. Dort müssen Ärz­t*in­nen melden, wenn sie Abbrüche durchführen. Die Anzahl der Meldestellen lässt allerdings keinen eindeutigen Rückschluss auf die Anzahl der Einrichtungen zu, die Abbrüche machen – da mehrere Ärz­t*in­nen über eine Meldestelle melden können und eine Ärz­t*in auch über mehrere Meldestellen melden kann.

Sind Ihre Schlussfolgerungen dann überhaupt valide?

Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Meldungen zwischen den Bundesländern signifikant unterschiedlich gehandhabt werden, weshalb vergleichende Analysen zwischen den Bundesländern Aussagekraft haben. Zusätzlich gibt es erstmals die Aussagen der Frauen über ihre Erfahrungen. Wenn die sagen, wir mussten mehrere Einrichtungen anfragen, bis wir einen Termin bekommen haben, und unsere Daten einen geringen Versorgungsgrad zeigen, ist klar: Das hängt zusammen. Also ja, unsere Daten sind valide.

Was ist das Problem dabei, dass die Datenlage bisher so schlecht war?

Die Länder erheben die medizinischen Einrichtungen, in denen Frauen Schwangerschaften abbrechen können, nicht systematisch. Das heißt aber auch: Sie können ihren gesetzlichen Versorgungsauftrag nicht systematisch erfüllen. Frauen, die in Regionen mit geringerem Versorgungsgrad leben, berichten über viel mehr Barrieren beim Zugang, haben weitere Wege zu den Praxen und zugleich höhere Kosten für den Abbruch selbst, die Wege oder auch für Kinderbetreuung. Allerdings sollte es letztlich nicht nur um die Anzahl der Versorgungseinrichtungen, sondern auch um die Qualität der Versorgung gehen.

Was macht gute Versorgung aus?

Versorgung wird oft reduziert auf die direkte Situation eines Abbruchs. Aber sie beginnt mit der Feststellung der Schwangerschaft in der gynäkologischen Praxis und endet mit der Nachsorge. Gute Versorgung muss sich an Evidenz orientieren, was einschließt, dass der Abbruch mit Methoden durchgeführt wird, die die Frauen wünschen und die höchster medizinischer Standard sind. Fast 20 Prozent der Frauen bekamen aber schon bei der Feststellung der Schwangerschaft unerwünschte Informationen: Von diesen wiederum gab fast die Hälfte an, dass ihnen ungefragt ein Ultraschallbild des Fötus gezeigt wurde. Ebenso viele erhielten ungefragt Informationen über Verhütung.

Was ist das Problem dabei?

Dass die Frauen nicht selbst entschieden haben, ob sie gerade zu diesem Zeitpunkt Informationen über Verhütung haben möchten oder ob sie das Ultraschallbild überhaupt sehen wollen. Sie nehmen das je nachdem als sehr unpassend wahr.

Hat Sie irgendetwas von Ihren Ergebnissen überrascht?

Was mich wirklich überrascht hat, ist, dass doch recht viele Frauen alternative Wege zu einem Schwangerschaftsabbruch in der gynäkologischen Praxis suchen. Von den Frauen, die einen Abbruch hatten, suchten mehr als zehn Prozent nach Informationen, um ihn außerhalb der regulären Angebote zu bekommen. Das kann sein, dass sie sich im Internet Medikamente für den Abbruch besorgen oder Angebote wie die der kanadischen NGO Women on Web nutzen, die in Deutschland den telemedizinisch durchgeführten medikamentösen Schwangerschaftsabbruch anbietet. Das ist schon recht deutlich.

Was noch?

Sehr deutlich war die Schuldfrage. Alle von uns interviewten Frauen mit Schwangerschaftsabbruch fühlten sich schuldig, dass bei ihnen die Verhütung versagt hat. Diese Verantwortung wird ihnen gesellschaftlich zugeschrieben – und sie nehmen sie an. In früheren Studien zur Jugendsexualität hat sich gezeigt, dass in den ersten Jahren der sexuellen Erfahrung die Verantwortung noch von beiden Part­ne­r*in­nen übernommen wird und sich erst später auf die Frauen verlagert. Aber das Thema Verhütung muss gesamtgesellschaftlich diskutiert werden und Männer müssen hier stärker in die Verantwortung genommen werden.

Neben den Erfahrungen der Frauen ging es in Ihrer Studie auch um die Erfahrungen von Ärzt*innen, die Abbrüche machen. Gibt es auch dafür erste Ergebnisse?

Wie für die Frauen ist auch für die Ärz­t*in­nen Stigmatisierung ein wichtiges Thema. 65 Prozent der befragten Ärzt*innen, die Abbrüche vornehmen, sagen, sie haben sowohl im privaten wie beruflichen Umfeld Erfahrungen von Stigmatisierung gemacht. Ihre Arbeit wird nicht als gute, wichtige medizinische Arbeit wahrgenommen, sondern als etwas Schmuddeliges, Schlechtes. Ganze 24 Prozent der Ärz­t*in­nen wurden schon einmal bedroht.

Was muss passieren, damit die Situation besser wird?

Zentral ist, dass die Stigmatisierung sowohl von ungewollt Schwangeren als auch von Ärz­t*in­nen abgebaut wird. Es braucht eine gesellschaftliche Haltung, die Abbrüche als medizinische Grundversorgung anerkennt. Das würde natürlich leichter, wenn Paragraf 218 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen würde. Der führt mit dazu, dass die Versorgungssituation hierzulande deutlich hinter dem von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlenen Standard herhinkt.

Wegen der Entfernung?

Nicht nur. In Deutschland werden noch viele Ausschabungen gemacht, obwohl sie von der WHO nicht empfohlen werden. Sie sind mit höheren gesundheitlichen Risiken verknüpft als zum Beispiel medikamentöse Abbrüche. Aber es braucht auch eine gesellschaftliche Haltung, die Abbrüche als medizinische Grundversorgung anerkennt. Und schließlich ist zentral, dass das Informationsdefizit abgebaut wird.

Paragraf 219a, der es Ärz­t*in­nen verboten hat, auf ihren Webseiten über Schwangerschaftsabbrüche zu informieren, wurde doch schon gestrichen.

Für unsere Befragung hat der Paragraf keine große Rolle mehr gespielt, das stimmt. Aber viele Ärz­t*in­nen fürchten, angegriffen zu werden, weil sie etwa auf ihrer Webseite schreiben, dass sie Abbrüche durchführen. Diese Situation dürfte sich kaum verändert haben. Was dabei auch interessant ist: Seit 2019 gibt es eine Liste der Bundesärztekammer, auf der Adressen mancher Ärz­t*in­nen stehen, die Abbrüche vornehmen. Der generelle Zugang zu einer Einrichtung über diese Liste funktioniert nicht: Von den Frauen, die danach suchten, kamen nur 3,4 Prozent über diese Liste an eine Adresse.

Ihre Studie ist im deutschen Kontext einmalig. Welchen Stellenwert hat sie international?

Eine Studie, die den Schwangerschaftsabbruch aus so verschiedenen Perspektiven empirisch untersucht, ist auch international meines Wissens einmalig. Besonders ist, dass wir die Ergebnisse der Befragungen gegenüberstellen können. Das heißt, wir verstehen, wie Frauen die Situation rund um den Schwangerschaftsabbruch erleben, aber auch, wie Ärzt*innen, die Abbrüche durchführen, sie erleben und welche Gründe es gibt, dass Ärz­t*in­nen keine Abbrüche machen.

Die Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung der Bundesregierung empfiehlt die Legalisierung von Abbrüchen in den ersten drei Monaten (die taz berichtete). Würden Sie sagen, in die Debatte um den Paragrafen 218 kommt gerade Bewegung?

Für uns als Studienautorinnen kommt es letztlich darauf an, ob es den politischen Willen gibt, mit unseren Ergebnissen zu arbeiten. Ich wünsche mir das sehr. Das ist ja genau das Ziel: Schlussfolgerungen zu ziehen, um die Versorgung ungewollt schwangerer Frauen zu verbessern und ihre reproduktive Gesundheit zu sichern.



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