Brüssel. Lettland trat der Nato vor 20 Jahren bei, einige Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Heute wird Russland dort wieder als Bedrohung wahrgenommen. War der Beitritt mit einer gewissen Vorahnung verbunden?

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Wir in Lettland haben immer verstanden: Russland ist eine potenzielle Bedrohung. Viele Jahre lang haben wir unsere Freunde und Verbündete gewarnt, dass Russland immer mehr zu einer realen Gefahr wird. Jetzt erleben wir, dass Russland schon im dritten Jahr einen massiven Krieg gegen die Ukraine führt. Dabei haben wir schon 2009 wegen der Angriffe und der Besetzung Georgiens Alarm geschlagen. Wir hassen es wirklich, Recht zu haben, und wollen doch selbst, was man uns so oft erwidert hat: Nein, nein, das aggressive Russland ist Geschichte, das ist heute ein ganz anderes Russland. Tatsächlich haben wir immer deutlicher gesehen, dass es dasselbe Russland ist. Deshalb war es eine ausgezeichnete geostrategische Entscheidung, dass Lettland, Estland und Litauen im selben Jahr schnell in die Europäische Union und in die Nato aufgenommen wurden.

Zur Person

Krisjanis Karins war von 2004 bis 2008 lettischer Wirtschaftsminister, ehe er ins EU-Parlament einzog. 2018 wurde Karins Ministerpräsident Lettlands und gewann 2022 die Parlamentswahl. In seiner zweiten Amtszeit kam es zum Streit in der Koalition, worauf Karins seinen Rücktritt erklärte und den Posten des Außenministers übernahm. Nachdem Kritik laut wurde, er habe als Ministerpräsident zu viele Flüge in Privatmaschinen statt mit Linienflügen gemacht, kündigte er an, sein Amt als Außenminister am 10. April niederzulegen. Er kandidiert jedoch weiterhin für das EU-Parlament.

Gibt es aus Ihrer Sicht in der Nato eine erkennbare Strategie zur Eindämmung der russischen Expansionsambitionen?

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Wir haben klar festgelegt, dass die Nato ein Gegengewicht zu einer möglichen sowjetischen Aggression, sein soll. Heute ist es die Russische Föderation, aber die Bedrohung ist im Wesentlichen dieselbe. Diese Erkenntnis setzt sich langsam durch. Wir sind überzeugt, dass wir für Europa und die Ukraine eine langfristige Eindämmungsstrategie gegen Russland entwickeln müssen, und zwar für einen Zeitraum von etwa 20 Jahren. Ich fordere nachdrücklich eine langfristige Strategie, denn auch wenn dieser Krieg vorbei ist, wird die Sicherheit Europas weiter durch Russland bedroht sein. Die russische Regierung und Gesellschaft befinden sich in einem expansiven, aggressiven Modus. Sie geben 40 Prozent ihres Haushalts für Verteidigung und innere Sicherheit aus. Moskau ist eindeutig auf Kriegskurs, und das bedeutet, dass die Russen jetzt und in Zukunft eine potenzielle Gefahr für Europa darstellen. Um dem entgegenzuwirken, brauchen wir einen langfristigen Plan, der sehr stark auf Investitionen und eine offene, sehr transparente Stationierung von Streitkräften setzt, so dass auf russischer Seite niemand auf die Idee kommen kann, die Nato sei irgendwie schwach.

Wir sind überzeugt, dass wir für Europa und die Ukraine eine langfristige Eindämmungsstrategie gegen Russland entwickeln müssen, und zwar für einen Zeitraum von etwa 20 Jahren.

Sie sagen 20 Jahre, aber der Vorschlag von Nato-Generalsekretär Stoltenberg sieht nur einen Militärfonds für die nächsten fünf Jahre vor, und zwar im Wesentlichen für die Ukraine.

Der Vorschlag des Generalsekretärs ist absolut unterstützenswert und geht genau in die richtige Richtung. Aber ich glaube, dass 100 Milliarden über fünf Jahre am Ende zu wenig und der Zeitraum zu kurz gedacht ist – aber der Kurs stimmt. Wir müssen Moskau ganz klar signalisieren, dass wir es ernst meinen mit der Unterstützung der Ukraine und dass unsere Verteidigungs- und Abschreckungsstrategie ganz klar auf die Zukunft ausgerichtet ist.

Ich glaube, dass 100 Milliarden über fünf Jahre am Ende zu wenig und der Zeitraum zu kurz gedacht ist.

Schon im Kalten Krieg sollte die Nato ein abschreckendes Gegengewicht zu Russland sein. Sind diese Zeiten wieder da?

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Ich weiß nicht, ob es ein Kalter Krieg ist. Eigentlich ist die Situation viel gefährlicher als im Kalten Krieg. Damals gab es zwei Atommächte, die den Status quo in Europa zementieren wollten. Heute haben wir mit Russland ein Land, das den Status quo mit militärischen Mitteln verändern will und dies in der Ukraine bereits tut. Leider ist die Situation heute viel explosiver. Die langfristige Strategie der Eindämmung und Abschreckung wird viele Elemente haben, eines davon ist die kontinuierliche Investition in unsere eigene und damit kollektive Verteidigung. Lettland liegt in diesem Jahr bei etwa 3 Prozent des BIP. Wir alle müssen bei den Investitionen näher an die 3 Prozent herankommen oder sogar etwas darüber. Zudem müssen wir unsere Verteidigungsindustrie modernisieren. Ich halte es für eine sehr ermutigende Entwicklung, dass die Franzosen und die Deutschen, also die großen Panzerhersteller mit dem Leopard und dem Leclerc, sich zusammentun, um einen neuen gemeinsamen Kampfpanzer zu bauen. Das ist ein sehr, sehr gutes Signal, um die Zahl der unterschiedlichen Waffen zu reduzieren. Das macht vieles einfacher – von Wartung, Produktion und Einsatz bis zur Interoperabilität. Davon brauchen wir mehr.

Sie waren vor ein paar Tagen in den USA, und es besteht die Befürchtung, dass die USA ihre Unterstützung für die Nato zurückfahren könnten, sollte Trump die Wahl gewinnen. Halten Sie das für realistisch?

Es ist wichtig, zwischen einem Kandidaten im Wahlkampf und einem Präsidenten im Amt zu unterscheiden. Wir haben eine gute Erfolgsbilanz mit Herrn Trump. Während seiner Amtszeit als Präsident haben die US-Truppen und die Hilfe für die baltischen Staaten und Polen zu- und nicht abgenommen. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass sich diese Strategie und diese Unterstützung mit Trump in einer zweiten Amtszeit grundlegend ändern würden. Ich weiß, dass viele Kommentatoren, auch europäische Politiker, das anders sehen, aber ich denke, es ist wichtig, dass wir nicht zulassen, dass Emotionen das rationale Denken beeinträchtigen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass die USA unter Trump mehr und nicht weniger Wert auf ihre militärischen Fähigkeiten und ihre Stärke gelegt haben.

Die Erfahrung hat gezeigt, dass die USA unter Trump mehr und nicht weniger Wert auf ihre militärischen Fähigkeiten und ihre Stärke gelegt haben.

Aber viele in der US-Bevölkerung und in der US-Politik meinen, die Ukraine sei weit weg und die Europäer sollen sich selbst mehr helfen. Konnten Sie in den USA erklären, dass die Hilfe für die Ukraine nicht nur ein Thema für Europa ist?

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Für die jetzige US-Regierung ist völlig klar, dass wir dieselbe Sprache sprechen. Aber den Medien habe ich gesagt, dass das, was in der Ukraine passiert, nicht nur direkte Auswirkungen auf die europäische Sicherheit hat, sondern auf die globale Sicherheit. Denn Russland als Großmacht versucht, die regelbasierte Ordnung zu stürzen, die auf dem beruht, was Washington am Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa mitgeschaffen hat. Es ist das System, das uns allen in Europa und Nordamerika Wohlstand gebracht hat. Aber nach dem Ende des Kalten Krieges sind die europäischen Investitionen in die Sicherheit drastisch zurückgegangen. Das hat sich mit dem Krieg gegen Russland geändert. Ich bin davon überzeugt, dass Europa als Kontinent wohlhabend genug ist, um den größten Teil seiner Verteidigungsausgaben selbst zu tragen. Das heißt nicht, dass Europa die USA nicht braucht, aber Europa sollte sich weniger auf amerikanische Direktinvestitionen verlassen und die Lastenteilung in der Nato ernst nehmen. Auf diese Weise kann Europa auch ein robusterer Verbündeter der USA sein.

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Die Nato sucht einen neuen Generalsekretär. Unterstützen Sie Mark Rutte?

Im Moment scheint es eine große Welle der Unterstützung für Mark Rutte zu geben. Der Prozess ist noch im Gange, aber die Unterstützung nimmt spürbar zu.

Halten Sie ihn für den besten Kandidaten?

Ich denke, Rutte ist ein sehr guter Kandidat. Ich habe fast fünf Jahre mit ihm zusammengearbeitet, als ich Premierminister war. Wir waren nicht immer einer Meinung, aber er ist ein sehr kluger Politiker und hat viel Erfahrung darin, einen Konsens zu finden. Das ist eine äußerst wichtige Eigenschaft für einen Generalsekretär, denn er bestimmt ja nicht die Politik der Nato. Er treibt zwar die Bündnispolitik voran, aber im Konsens mit den 32 Mitgliedern.

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Aber auch 20 Jahre nach der Erweiterung gibt es kaum Osteuropäer und Balten in Spitzenpositionen der EU oder der Nato. Warum ist das so?

Es ist ein Prozess. Wir sind seit 20 Jahren in beiden Institutionen als Vollmitglieder vertreten. Ich denke, es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich auch hier das Blatt wendet.

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Sie waren Abgeordneter im Europäischen Parlament, dann Premierminister, jetzt Außenminister, haben Ihren Rücktritt eingereicht und kandidieren nun wieder für das Europäische Parlament. Ist das nicht ein Rückschritt?

Für mich persönlich gibt es in der politischen Karriere keinen Schritt vorwärts oder rückwärts. Wenn man erst einmal Ministerpräsident war, dann ist das so ziemlich der Höhepunkt des politischen Geschäfts. Und ich war der erste lettische Ministerpräsident, der eine volle Amtszeit absolviert und anschließend die Wahlen noch gewonnen hat. Ich denke, dass es in der Politik wichtig ist, sich zu überlegen, wo man mit seinen Fähigkeiten, seinem Wissen und seinen Möglichkeiten am nützlichsten sein kann.

Und im Moment ist das im Europäischen Parlament?

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Ja, ich sehe eine der großen Herausforderungen der nächsten fünf Jahre darin, den Weg der europäischen Integration fortzusetzen. Die EU ist zunehmend bedroht, weil Politikerinnen und Politiker von antieuropäischen Parteien in das Parlament gewählt werden. Unsere Sicherheit stützt sich auf zwei Säulen, die der Nato und der EU. Die Nato wird immer stärker, wir haben jetzt 32 Mitglieder, und sie entwickelt sich eigentlich in eine recht gute Richtung. Die Europäische Union versucht zu wachsen, aber es gibt viele Gegner, vor allem im Europäischen Parlament, und es werden noch mehr werden. Dagegen möchte ich ankämpfen.

Sie wollen also ernsthaft wieder ins Europäische Parlament?

Ja, dafür trete ich bei den Wahlen an.



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