Rüdiger Schuch ist seit fast 100 Tagen Präsident der Diakonie. Die evangelische Wohlfahrtsorganisation betreibt Zehntausende stationäre und ambulante Dienste wie Krankenhäuser, Altenpflegeheime, Sozialstationen, Werkstätten für Menschen mit Behinderungen und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Die Diakonie hat rund 600.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

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Herr Schuch, die Ampel streitet über die Kindergrundsicherung, die FDP droht mit einer Blockade. Was erwarten Sie von der Regierung?

Die Kindergrundsicherung sollte wegen der Streitereien der Ampel nicht auf der Strecke bleiben. Das wäre für die betroffenen Kinder, die man besser absichern will, eine fatale Situation. Die Grundidee der Reform, verschiedene Leistungen zu bündeln, ist gut und sollte weiter vorangetrieben werden.

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Hauptstreitpunkt sind die von Bundesministerin Lisa Paus (Grüne) geforderten 5000 Stellen für den neuen Familienservice. Braucht es diese Beratungsstruktur in der Fläche, um die Kinder zu erreichen?

Aus der Perspektive der Kinder und ihrer Eltern ist es richtig, ein möglichst einfaches Verfahren zu schaffen, damit die Familien die Unterstützung auch tatsächlich beantragen und erhalten. Wenn man die Zahl 5000 hört, klingt das erst einmal verstörend hoch. Da muss man politisch sicherlich noch mal diskutieren – aber sachorientiert und ohne Polemik. Zwei Ziele müssen zusammengebracht werden: schlankere Verwaltungsstrukturen und barrierefreie Zugänge. Sonst lässt sich die Quote derer, die die Unterstützung in Anspruch nehmen, nicht signifikant erhöhen. Es wäre sehr bitter, wenn die Kindergrundsicherung an der Zahl 5000 scheitert.

Das Familienministerium geht von bis zu 636 Euro Unterstützung für ein Kind aus. Reicht das aus?

Nein, die Kindergrundsicherung müsste für bedürftige Kinder bei mehr als 700 Euro im Monat liegen. Die zur Verfügung gestellten Mittel reichen nicht aus, um Kinder aus der Armut zu holen und Teilhabe für alle zu ermöglichen. Das wäre übrigens auch ökonomisch sinnvoll. Denn auf lange Sicht ist es für den Staat viel günstiger, am Anfang in die Kinder zu investieren, als später draufzuzahlen, damit sich die Menschen in der Gesellschaft zurechtfinden.

Kinder im Asylsystem sollen nach Plänen der Ampel nicht von der Kindergrundsicherung profitieren.

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Kinder von Asylsuchenden aus der Kindergrundsicherung herauszunehmen, bedeutet eine Ungleichbehandlung. Das ist einer der großen Fehler bei dieser Reform und sollte im Gesetzesverfahren wieder rückgängig gemacht werden.

Es gibt Befürchtungen, dass dies ein Anreiz für Geflüchtete wäre, nach Deutschland zu kommen.

Menschen fliehen, weil sie verfolgt sind, weil sie in höchster Not leben, weil sie Angst um Leib und Seele haben. Solche Menschen kommen nicht des Geldes wegen.

Der soziale Frieden und die Stabilität unserer Demokratie stehen im engen Zusammenhang mit dem Sozialstaatsprinzip.

Diakonie-Chef Rüdiger Schuch

Die Haushaltsverhandlungen im Bund stehen an, Finanzminister Christian Lindner fordert wegen knapper Kassen ein Moratorium bei Sozialausgaben. In Verteidigung soll weiter investiert werden. Ist der Rotstift richtig angesetzt?

Ein Moratorium käme in den kommenden Jahren einer realen Kürzung gleich. Das wäre fahrlässig. Der soziale Frieden und die Stabilität unserer Demokratie stehen im engen Zusammenhang mit dem Sozialstaatsprinzip. Es ist vollkommen richtig, die Staats- und Sozialausgaben immer wieder kritisch zu überprüfen. Dass Christian Lindner mit dem Rasenmäher über den Sozialstaat fahren will, ist allerdings populistisch.

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Das Problem der knappen Kassen bleibt. Was sind Ihre Vorschläge, um mehr Geld in die Kassen zu spülen?

Die Bundesregierung sollte den Mut aufbringen, die Schuldenbremse verantwortungsvoll zu lockern. Der Kampf gegen das Haushaltsdefizit darf nicht zulasten des Sozialstaats gehen. Wir könnten zudem Vermögen höher besteuern. Wer an der falschen Stelle spart, zahlt später drauf.

„Wir laufen bei der Pflege sehenden Auges in eine Katastrophe“

Kommen wir zur Pflege: Wir schätzen Sie die derzeitige Lage ein?

Wir laufen bei der Pflege sehenden Auges in eine Katastrophe. Wir haben zu wenige Pflegefachkräfte. Die Kosten in der Pflege explodieren. Und viele pflegebedürftige Menschen fühlen sich doppelt überfordert: mit der Pflege selbst und mit ihrer Finanzierung. Die Menschen verlieren zunehmend das Vertrauen, dass es ein System gibt, das sie im Fall der Fälle unterstützen kann.

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Die Eigenanteile in der stationären Pflege liegen bei bis zu 3000 Euro. Ist der zu 2024 erhöhte Pflegezuschlag eine ausreichende Entlastung – und rechnen Sie mit weiteren Steigerungen?

Wenn die Bundesregierung nicht handelt, werden die Eigenteile in den kommenden Jahren weiter steigen. Wir wollen eine grundlegende Reform: Angehörige sollten nur bis zu einem bestimmten Sockelbetrag an der Pflege beteiligt werden. Alle Kosten darüber hinaus trägt dann die Pflegeversicherung und der Staat mithilfe von Steuereinnahmen.

Dann werden Beitragszahler höhere Beiträge zur Pflegeversicherung zahlen müssen, was eine zusätzliche Belastung wäre.

Das kann man nicht ausschließen, deswegen sind auch Steuermittel notwendig.

Das ist eine Schraube, die sich immer weiter nach oben dreht, bis das System auseinanderbricht.

Diakonie-Präsident Rüdiger Schuch

Die Diakonie ist einer der größten Betreiber von Pflegeeinrichtungen. Wie wirkt sich der Fachkräftemangel auf die Heime aus?

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Allein in unserer eigenen Diakonie-Stellenbörse werden zurzeit 3717 Pflegekräfte gesucht – und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Wenn man Stellen in der stationären Altenpflege nicht besetzen kann, dann stehen viele Wohnbereiche weitestgehend leer, weil wegen des Fachkräftemangels die Betten nicht belegt werden können. Dann kommen die Einrichtungen in finanzielle Schwierigkeiten, und der Job wird wegen der Verdichtung der Arbeit viel stressiger. In der Folge kündigen viele Pflegefachkräfte oder werden krank. Das ist eine Schraube, die sich immer weiter nach oben dreht, bis das System auseinanderbricht.

Wie kann das Problem gelöst werden?

Wir müssen mehr Menschen für die Pflege gewinnen. Die Diakonie wirbt aktiv um Fachkräfte. Es braucht zudem eine verantwortungsvolle Anwerbung von Pflegefachkräften aus dem Ausland. Da muss das System und die Politik trotz wichtiger Weichenstellen in den vergangenen Jahren größere Anstrengungen unternehmen.



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