Berlin. Yair Moses, 49 Jahre, ist eigentlich IT-Experte einer Pharmafirma im israelischen Gedera und trägt einen kleinen Kinnbart. Sein Vater Gadi ist eigentlich Bauer im Kibbuz „Nir Oz“ nahe der Grenze zum Gazastreifen, wo er – obwohl Rentner – noch immer jeden Tag im Garten und auf den Feldern mitgeholfen hat. Weil er seit seiner Ankunft im Kibbuz mit 19 Jahren Farmer war; weil es ihm Spaß gemacht hat, und weil er anderen Farmen helfen wollte, zum Beispiel auch als Berater in Entwicklungsländern. Er wusste viel darüber, wie man auch unter schwierigen Bedingungen Kartoffeln anbaut.

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Doch seit dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober gibt es diese Welt nicht mehr für Gadi und Yair: Der Vater wurde beim Angriff der Terroristen auf den Kibbuz entführt und ist an diesem Sonntag sechs Monate in Geiselhaft. Sein Sohn leidet seit dem Überfall an Schlafstörungen, arbeitet nicht mehr in seinem Beruf, sondern kümmert sich ausschließlich darum, dass sein Vater und die anderen 130 israelischen Geiseln der Hamas freikommen. Auch rasiert hat er sich seit dem 7. Oktober nicht mehr. Aus seinem Kinn ist inzwischen ein graumelierter Rauschebart geworden.

Yair Moses

Seit dem 7. Oktober wächst der Bart von Yair Moses und seitdem kämpft er auch für die Freiheit seines Vaters.

Herr Moses, wann haben Sie zuletzt von Ihrem Vater gehört?

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Es gibt nur ein Video, das die Terroristen Mitte Dezember veröffentlicht haben und das ihn zeigt. Das ist das einzige Lebenszeichen, aber wir wissen nicht, wann oder wo es aufgenommen wurde. Schon darin sah er sehr abgemagert und sehr müde aus. Er wirkt erschöpft und sah zehn Jahre älter aus als vor sechs Monaten.

Wissen Sie, wie es ihm geht?

Nein, nichts davon. Er ist vor drei Wochen 80 Jahre alt geworden, in der Geiselhaft. Aber wir haben keine Ahnung, wo er ist. Keine der inzwischen entlassenen Geiseln hat ihn gesehen. Es gibt keinerlei Kontakt zu seinen Entführern. Wir sind in großer Sorge – auch weil die Hamas keinerlei Hilfsorganisationen zu ihnen lassen.

Auch Ihre Mutter Margalit wurde am 7. Oktober entführt.

Ja. Meine Eltern sind geschieden, sie haben in verschiedenen Häusern in „Nir Oz“ gelebt. Als die Hamas den Kibbuz am Morgen überfallen hat, wurden beide entführt. Die Lebensgefährtin meines Vaters, Efrat Katz, versteckte sich im „Safe Room“, und er stellte sich den Terroristen und sagte, außer ihm sei niemand da. Efrat konnte uns noch mitteilen, dass sie ihn nach Gaza mitgenommen hatten. Leider überfiel später eine zweite Gruppe den Kibbuz und ermordete sie.

Ihre Mutter gehört zu den Geiseln, deren Freilassung Israels Regierung Ende November mit der Hamas aushandelte. Im Gegenzug wurden palästinensische Straftäter entlassen. Wie geht es ihr heute?

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Meine Mutter wurde 49 Tage lang in den Tunneln in Gaza festgehalten. Sie ist sehr krank, braucht Medikamente und deshalb war sie zu unserem großen Glück unter den ersten, die freikamen. Inzwischen konnte sie sich von der Entführung erholen, wobei sie immer noch medizinische und psychologische Hilfe bekommt.

Was hat sie über die Geiselhaft berichtet?

Sie war die ganze Zeit in den unterirdischen Tunneln, ohne frische Luft, es war sehr schwül und stickig. Es gab keine Sanitäranlagen, kaum Essen und kaum Medizin. Auch aus anderen Quellen wissen wir, dass es vor allem den alten Menschen gesundheitlich sehr schlecht geht. Wir wissen, was den jungen Frauen angetan wird und dass die jungen Männern gefoltert werden, weil die Hamas jeden Mann unter 50 als Soldaten betrachtet.

Wie oft haben Sie Kontakt zu den israelischen Behörden, um nach Ihrem Vater zu fragen?

Wir sind in Dauerkontakt mit der Polizei. Ein Beamter ist unsere feste Kontaktperson, und er meldet sich, sobald es Informationen über die Geiseln gibt. Wenn es keine gibt, fragt er aller zwei, drei Tage nach, wie es uns geht und ob wir Hilfe brauchen. Organisatorisch wird uns ohne Bürokratie geholfen, und wir werden auch psychologisch betreut. Was tatsächlich auch nötig ist.

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Sie selbst und auch Ihre beiden Eltern haben neben der israelischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft, weil ihre Großeltern in Deutschland geboren sind und in den frühen 1930ern von den Nazis nach Israel flohen. Hat Ihnen auch die deutsche Regierung Hilfe angeboten?

Ja, wir sind im regelmäßigen direkten Austausch mit der deutschen Botschaft in Israel. Bei beiden Israel-Besuchen des Bundeskanzler seit dem 7. Oktober habe ich ihn getroffen. Durch Zufall war ich der erste Angehörige, der nach dem Überfall mit Botschafter Steffen Seibert telefoniert hat. Ich war an seine Nummer gekommen und habe direkt am Montag mit ihm gesprochen. Er ist sehr aufmerksam und hilfsbereit. Wir wissen die deutsche Unterstützung sehr zu schätzen.

Die Angehörigen der Geiseln haben sich organisiert und treten gemeinsam auf – etwa in Gesprächen mit der Regierung oder in Auslandsdelegationen, um auf das Schicksal der Geiseln aufmerksam zu machen, oder auch auf Demonstrationen. Haben Sie das Gefühl, Sie haben auch nach sechs Monaten noch denselben Blick auf die Krise, haben noch dieselben Forderungen?

Es gibt für jede Sichtweise ein paar radikale Stimmen. Einige sagen, wir müssen Gaza jetzt komplett verlassen, den Kampfhandlungen einstellen und nur noch unsere Leute heimbringen. Und es gibt auch unter den Angehörigen einige, die sagen: Wir müssen den Krieg fortsetzen, bis die Hamas endgültig erledigt ist – selbst wenn wir dafür das Leben der Geiseln riskieren.

Was sagen Sie?

Wir sind uns darin einig, dass wir alles dafür tun müssen, um sie nach Hause zu holen. Dazu gehört, dass die Armee alles tut, was sie kann. Aber dazu gehören auch Verhandlungen. Allein mit Militärgewalt nach Rafah zu gehen, wird die Geiseln noch nicht zurückbringen. Schließlich ist nun ein halbes Jahr vorüber, und sie sind immer noch nicht hier. Das zeigt, dass wir umdenken müssen.

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Wie gehen Sie als Angehöriger damit um?

Klar ist, das bisherige Vorgehen war nicht erfolgreich. Also muss die Politik neue Wege gehen. Die Angehörigen selbst reagieren verschieden: Einige werden aggressiver in ihren Aktivitäten, sie gehen bei den Demonstrationen auf Konfrontationskurs mit der Polizei indem sie Straßen blockieren oder überall protestieren, wo sie wollen. Andere bleiben den Demos deshalb fern. Es gibt kein Handbuch für eine solche Situation, es gibt kein Richtig oder Falsch.

In Israel wächst die Kritik an Premierminister Netanjahu. Ist aus der Bewegung für die Befreiung der Geiseln schon eine regierungskritische Bewegung geworden?

Uns ist sehr wichtig, dass unser Anliegen nicht politisiert wird. Wir müssen parteipolitisch neutral sein, um vereint zu bleiben. Trotzdem sagen auch unter einige, dass der Premier nicht alles tut, was er kann, weil er andere Interessen verfolgt. Aber selbst wenn man ihm das nicht unterstellt: Fakt ist, er hat es nicht geschafft, sie heimzubringen. Das ist der Grund für unseren wachsenden Protest.

Was könnte noch getan werden?

Ich bin kein Politiker oder General. Aber es ist deren Job, die Geiseln zu befreien. Sie versprechen uns nun seit einem halben Jahr, dass ihr Vorgehen Hamas dazu bewegen wird. Aber das stimmt offensichtlich nicht. Also müssen sie sich etwas anderes einfallen lassen. Und was die internationale Ebene angeht: Die arabischen Staaten müssen dazu gebracht werden, den Druck auf die Hamas zu erhöhen – oder auf Katar, damit es seine Unterstützung für die Terroristen einstellt. Darauf muss die gesamte Welt hinwirken, vor allem mit ökonomischem Druck.

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Was sagen Sie zu den weltweiten Rufen nach einem Waffenstillstand?

Wer diese Forderung an Israel richtet, muss wissen: Sobald die israelischen Geiseln wieder zu Hause sind, endet der Krieg. Sofort. In diesem Krieg ging es Israel nie darum, Gaza zu besetzen. Israel hat Gaza seit 18 Jahren verlassen. Mit dem Geld, das seitdem aus aller Welt dorthin geflossen ist, könnte Gaza ein Paradies sein. Stattdessen hat die Hamas Tunnel gebaut, sich für den Angriff auf Israel aufgerüstet – und ihre Führer sind davon reich geworden. Nur die Menschen in Gaza hatten nichts davon. Dass auch so viele Menschen in der westlichen Welt, deren Werte Israel teilt, nicht sehen oder wissen, schmerzt mich.

Israels Regierung wird vor allem für die Härte kritisiert, mit der sie den Krieg in Gaza führt – ohne Rücksicht auf die Zivilisten, wie es scheint.

Israel will nicht, dass Menschen getötet werden. Wir wollen nicht, dass Zivilsten verletzt oder Häuser beschossen werden. Aber wenn zwischen diesen Häusern Raketen auf uns als israelische Zivilisten abgefeuert werden, müssen wir diese Infrastruktur zerstören. Und sie kann nicht zerstört werden, ohne diese Gebiete zu bombardieren. Kein Land der Welt würde sich damit abfinden, ständig mit Raketen beschossen zu werden – nur weil sie zwischen Häusern abgeschossen werden. Das müssen wir dem Rest der Welt besser erklären.

Der Leichnam eines Mitarbeiters der US-Hilfsorganisation „World Central Kitchen“ wird aus einem Leichenschauhaus in Rafah abtransportiert.

Der Leichnam eines Mitarbeiters der US-Hilfsorganisation „World Central Kitchen“ wird aus einem Leichenschauhaus in Rafah abtransportiert.

In dieser Woche wurden aber auch humanitäre Helfer durch israelische Angriffe getötet.

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Ich gebe ohne Einschränkung zu, dass dieser Unfall sehr tragisch war und nicht hätte passieren dürfen. Wie das geschehen ist, muss aufgeklärt werden. Israel hat sehr schnell dafür um Entschuldigung gebeten. Es muss nur klar sein: Wenn die israelischen Entführten wieder daheim wären, wäre es nie dazu gekommen.

Was empfinden Sie es als Angehöriger, dessen Vater noch immer entführt ist, dass im Rest der Welt inzwischen vor allem Israel kritisiert wird?

Das liegt daran, dass der Krieg schon viel zu lange anhält und die israelische Regierung nicht zu einem Umdenken bereit ist – und auch nicht dazu, über die Zukunft von Gaza nach dem Krieg zu sprechen. Vielleicht könnte es Teil der Verhandlung sein, dass die Menschen wieder in den Norden von Gaza zurückkehren könnten.

Auf der anderen Seite kann Israel die Kämpfe nicht einfach einseitig einstellen. Wir haben ja gesehen, was auf dem Gelände des Schifa-Krankenhaus passiert ist: Nachdem Israels Armee die dortige Hamas-Zentrale zerstört hatte und im März wieder abgezogen war, kamen die Hamas-Führungsleute sofort zurück und feuerten wieder von dort. Daran habe ich sehr wenig Kritik gehört. Im Norden Israels können 60.000 Menschen seit sechs Monaten nicht in ihre Häuser, weil sie aus dem Libanon mit Raketen beschossen werden. Wer spricht darüber?

Two Iranian women walk past an anti-Israel mural under a giant image of Fattah, Iran's first-ever hypersonic missile, in Palestine square in downtown Tehran, June 7, 2023. According to Iran's state media, the Fattah solid fuel hypersonic missile can reach Tel Aviv in 400 seconds from inside Iran and travels at a speed of 5,145 meters per second. (Photo by Morteza Nikoubazl/NurPhoto)

Racheschwur gegen Erzfeind Israel: Wann und wo schlägt der Iran zu?

Der Iran will Rache für die Tötung von sieben Offizieren durch einen offenbar israelischen Luftangriff. Doch was genau wird er tun? Israel stört bereits GPS-Signale, um mögliche Raketenangriffe zu behindern, israelischen Soldaten wurde der Urlaub gestrichen. Wie gefährlich könnte ein Schlagabtausch zwischen dem Iran und Israel werden? Eine Analyse.

Sie sind auch deutscher Staatsbürger. Welche Botschaft haben Sie an die deutschen Leser?

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Wir wissen, dass die deutsche Regierung, aber auch die Bevölkerung, uns sehr unterstützen und sind dafür sehr dankbar. Ich verstehe, dass diese Stimmung sich gerade zu verändern beginnt. Wir sehen auch vieles kritisch, was unsere Regierung tut. Aber kein Volk der Welt würde tatenlos zusehen, wenn es derart angegriffen wird. In dem Kibbuz, in dem ich aufgewachsen bin, sind am 7. Oktober ein Viertel der Einwohner getötet oder entführt worden. Darunter waren zwei meiner besten Freunde, mit denen ich aufgewachsen bin und die mir näher waren als Brüder. Stellen Sie sich vor, ein deutsches Dorf wird angegriffen und jeder vierte Mensch ermordet. Was glauben Sie, wie die anderen Einwohner sich fühlen würden? Uns Familien geht es nur darum, unsere Lieben wiederzubekommen.



Source link www.ostsee-zeitung.de