Ankara. Seit seiner Wahl zum Istanbuler Oberbürgermeister vor 30 Jahren hat Recep Tayyip Erdogan keinen Urnengang verloren – bis jetzt. Bei den türkischen Kommunalwahlen am Sonntag bekamen die Kandidaten der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) landesweit die meisten Stimmen. Erdogans islamisch-konservative Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) erlitt massive Verluste. Besonders demütigend ist für Erdogan die Niederlage in Istanbul, wo er 1994 seine politische Karriere begonnen hatte.

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Erdogan selbst hatte sich in Istanbul mit einem halben Dutzend Wahlkampfkundgebungen während der vergangenen Wochen persönlich für seinen Kandidaten Murat Kurum ins Zeug gelegt. Trotzdem verlor der frühere Umweltminister klar gegen den CHP-Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu. Erdogans Hoffnung, die 2019 von der bürgerlich-sozialdemokratischen CHP gewonnene Bosporusmetropole zurückzuerobern, ist damit gescheitert.

ISTANBUL, TURKEY - MARCH 29: Statue of Mustafa Kemal Ataturk, founder of modern Turkey, seen in front of an election flag of Turkey's President Recep Tayyip Erdogan ahead of the local elections  on March 29, 2024 in Istanbul, Turkey. Turkey will hold municipal elections on Sunday March 31, with President Recep Tayyip Erdogan's AK Party aiming to reclaim cities it lost in 2019, including the country's largest city of Istanbul and the capital Ankara. (Photo by Burak Kara/Getty Images)

Kommentar: Zu früh, um Erdogan abzuschreiben

Die Partei des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan hat bei den Kommunalwahlen klar verloren. Die AKP hat eine historische Niederlage einstecken müssen. Schon oft wurde er politisch totgesagt – zu früh, mein Gerd Höhler.

Vor 2019 wurde Istanbul 25 Jahre lang von islamisch geprägten Parteien regiert. Der Gewinner Imamoglu erklärte vor jubelnden Anhängern: „Die Türkei wird nun in einer neuen Ära der Demokratie aufblühen!“ Imamoglu sagte: „Jene, die die Botschaft der Nation nicht verstehen, werden letztlich verlieren.“

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„Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei“

Erdogan selbst hatte in der Vergangenheit erklärt: „Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei“. Die Wirtschafts- und Finanzmetropole beherbergt mit 16 Millionen Einwohnern nicht nur ein Fünftel der Bevölkerung des Landes und erwirtschaftet ein Drittel des türkischen Bruttoinlandsprodukts. Die Stadt hat auch ein jährliches Budget von umgerechnet rund sechs Milliarden Euro und vergibt lukrative Aufträge. Dabei sind in der Türkei nicht selten politische Gefälligkeiten im Spiel.

Der Verlust von Istanbul war nicht das einzige Debakel für Erdogan. Auch in der Hauptstadt Ankara konnte sich der CHP-Oberbürgermeister behaupten, mit einem Vorsprung von 28 Prozentpunkten gegenüber dem AKP-Kandidaten. Die Regierungspartei konnte keine der Großstädte, die sie 2019 an die Opposition verloren hatte, zurückgewinnen. Im Gegenteil, die Opposition gewann hinzu: Sie konnte unter anderem konservative Hochburgen wie die Städte Adiyaman, Afyonkarahisar und Zonguldak erobern.

Erdogan: „Haben nicht die Ergebnisse erzielt, die wir erwartet haben“

Besonders schmerzhaft für Erdogan ist neben dem Verlust von Istanbul, dass nun auch die westtürkische Großstadt Bursa, ein Zentrum der türkischen Textil- und Automobilindustrie, an die CHP ging. Die AKP verlor ebenfalls die Industriestadt Balikesir an die CHP. Hatte die AKP 2019 noch 39 Städte gewonnen, waren es jetzt nur noch 24. Als am Montagmorgen fast alle Stimmen ausgezählt waren, lag die größte Oppositionspartei landesweit mit einem Stimmenanteil von 37 Prozent knapp vor der AKP mit 36 Prozent. Auch das hat es seit dem ersten Wahlsieg der Erdogan-Partei im Jahr 2002 noch nicht gegeben. Die CHP gewann 36 der 81 Provinzen. Die AKP konnte im Wesentlichen nur ihre Position in den eher ländlichen Regionen Anatoliens und an Teilen der Schwarzmeerküste behaupten. Dort lebt Erdogans streng religiös-konservativ geprägte Kernwählerschaft.

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In den überwiegend kurdisch besiedelten Südostprovinzen gewann die pro-kurdische Partei DEM erwartungsgemäß mehr als 60 Rathäuser, wie schon 2019. Nach der damaligen Wahl ließ Erdogan allerdings die meisten kurdischen Bürgermeister wegen angeblicher Verbindungen zur verbotenen Terrororganisation PKK ihrer Ämter entheben und durch staatliche Zwangsverwalter ersetzen.

Wie Erdogan jetzt mit den kurdischen Kommunalpolitikern umgeht, könnte erste Rückschlüsse auf seinen künftigen Kurs zulassen. Am späten Sonntagabend flog der Präsident von Istanbul nach Ankara, wo er vor der Parteizentrale der AKP zu seinen Anhängern sprach. „Wir haben leider nicht die Ergebnisse erzielt, die wir erwartet und erhofft haben“, sagte Erdogan. Die AKP habe in der gesamten Türkei „an Höhe verloren“. Der Präsident versicherte aber seinen Anhängern, diese Wahl sei „nicht das Ende für uns, sondern ein Wendepunkt“. Erdogan kündigte „Selbstkritik“ an: „Wir werden alles auf den Tisch bringen, analysieren, unsere Fehler korrigieren und Unzulänglichkeiten beseitigen.“

147 Terrorverdächtige bei Razzien in der Türkei festgenommen

Türkische Behörden haben in landesweiten Operationen 147 Personen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Extremisten­organisation „Islamischer Staat“ festgenommen.

Erdogan: „Haben nicht die Ergebnisse erzielt, die wir erwartet haben“

Die Wahl fand vor dem Hintergrund einer zunehmend schwierigen Wirtschaftslage statt. Die Inflation, die im Februar 67 Prozent erreichte, zehrt an der Kaufkraft der Menschen. Wohnungsmieten, Energiekosten, selbst Grundnahrungsmittel sind für viele unerschwinglich geworden. Stadtbewohner spüren die Teuerung und die steigenden Preise für Wohnraum besonders massiv. Das erklärt die großen Verluste der AKP in den Städten.

Als eine der Ursachen der Krise gelten Erdogans Einmischungen in die Geldpolitik: Um die Wirtschaft mit billigen Krediten anzukurbeln, musste die türkische Zentralbank jahrelang auf Erdogans Weisung die Zinsen niedrig halten. Erst im vergangenen Sommer warf Erdogan das Ruder herum und gab der Notenbank freie Hand für Zinserhöhungen. Seither stieg der Leitzins von acht auf 50 Prozent.

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Ein Mann und eine Frau gehen an Plakaten des Präsidenten der Türkei, Erdogan (links), und des Bürgermeisters von Istanbul, Imamoglu, vorbei (Archivbild).

Ein Mann und eine Frau gehen an Plakaten des Präsidenten der Türkei, Erdogan (links), und des Bürgermeisters von Istanbul, Imamoglu, vorbei (Archivbild).

Imamoglu nun Anwärter auf das Amt des Präsidenten

Der 70-jährige Erdogan steht seit über zwei Jahrzehnten an der Staatsspitze, zuerst als Premierminister und seit 2014 als Präsident. Er prägte die Türkei wie kein anderer Politiker seit dem Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, der das Land von 1923 bis 1938 führte. Mit einer Verfassungsreform schaffte Erdogan 2018 das parlamentarische System ab und sicherte sich als Staatsoberhaupt, Regierungschef und Parteivorsitzender in Personalunion eine Machtfülle, wie sie kein anderer westlicher Staats- oder Regierungschef besitzt. Wegen seines zunehmend autoritären Regierungsstils, der Verfolgung politischer Gegner, der Gängelung der Justiz und Einschränkungen der Meinungsfreiheit steht Erdogan im Westen in der Kritik.

Mit dieser Kommunalwahl hat sich die politische Landschaft in der Türkei verändert. Der 53-jährige Istanbuler Oberbürgermeister Imamoglu gilt nach seinem neuerlichen Wahlsieg nun als Anwärter auf das Amt des Präsidenten. Er muss spätestens 2028 neu gewählt werden. Nach den Bestimmungen der Verfassung kann Erdogan nicht für eine weitere Amtszeit kandieren. Er bringt allerdings seit langem eine Verfassungsänderung ins Gespräch, wohl auch mit dem Ziel, sich eine erneute Kandidatur oder sogar eine Amtsführung auf Lebenszeit zu sichern. Und ob Imamoglu überhaupt bei der nächsten Präsidentenwahl antreten kann, ist ungewiss: Gegen ihn läuft ein Strafverfahren wegen Beleidigung, weil er 2019 die Mitglieder des Obersten Wahlrates als „Dummköpfe“ bezeichnet hatte. Dafür wurde Imamoglu 2022 in erster Instanz zu zwei Jahren und sieben Monaten Haft verurteilt.

Regierungskritiker sehen Erdogan als treibende Kraft hinter der Strafverfolgung des populären Oppositionspolitikers. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch bezeichnete das Urteil als „politisch motiviert“. Imamoglu ging in Berufung. Die nächste Verhandlung in der Causa Imamoglu ist für den 25. April angesetzt. Sollte das Urteil in zweiter Instanz bestätigt werden, droht ihm ein mehrjähriges Politikverbot. Dann müsste Imamoglu sein Bürgermeisteramt abgeben. Erdogans schärfster Konkurrent wäre politisch kaltgestellt.



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