Berlin. Samuel Salzborn (46) ist Sozialwissenschaftler und Antisemitismusbeauftragter des Landes Berlin. In einem neuen Buch plädiert er dafür, den Kampf gegen Antisemitismus als Staatsziel in die Verfassungen der Bundesländer aufzunehmen. Auch zu einem AfD-Verbotsverfahren findet er klare Worte.

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Herr Salzborn, Ihr neuestes Buch trägt den Titel „Wehrlose Demokratie?“. Angesichts der Bedrohung durch Extremisten aller Art – wie wehrhaft ist unsere Demokratie aus Ihrer Sicht noch?

Die Bundesrepublik versteht sich als wehrhafte Demokratie. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben aus der Erkenntnis, dass die Weimarer Reichsverfassung mit ihren eigenen Mitteln zerstört werden konnte, Elemente der wehrhaften Demokratie im Grundgesetz fest verankert. Parteien und Vereine können verboten werden, Extremisten können ihre Grundrechte verwirken. Aber diese Möglichkeiten werden in der Geschichte der Bundesrepublik nur zögerlich genutzt. Es ist gerade in Bezug auf das Thema Antisemitismus notwendig, bestehende Normen auch voll auszuschöpfen, aber sie zum Teil auch konkreter zu machen und zu erweitern. „Nie wieder ist jetzt“ kann eben nicht nur eine Parole sein, sondern sie braucht auch ganz konkrete politischer Praxis.

Gehört dazu auch ein AfD-Verbotsverfahren?

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Viele politische Akteure scheuen davor zurück, weil sie befürchten, es könnte scheitern. Das ist die Erfahrung aus dem gescheiterten zweiten Verbotsverfahren gegen die NPD. Das hat zu einer Form von Lähmung in der politischen Auseinandersetzung geführt. Aber der Radikalisierungsprozess der AfD in Richtung Rechtsextremismus ist deutlich zu vernehmen. Ein Verbotsverfahren nur aus dem Blickwinkel eines möglichen Scheiterns zu bewerten, halte ich für einen Fehler. Es ist Teil der Demokratie, mit bestimmten Versuchen, die Demokratie zu schützen, auch rechtlich scheitern zu können. Wir haben eine Gewaltenteilung. Wenn ein Gericht am Ende die Erkenntnisse anders bewertet als eine Regierung oder ein Parlament als Antragsteller, dann wird man damit leben müssen.

„Die Daten geben Anlass zur Sorge“: Ein Passant steckt einen Koran in die Tasche.

Niedersachsen: Studie fördert islamistische Tendenzen unter Schülern zutage

Bei einer Befragung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen geben zwei Drittel der muslimischen Schüler an, dass ihnen die Regeln des Koran wichtiger sind als deutsche Gesetze. Die Stichprobe ist nicht repräsentativ. Die Autoren sehen die Ergebnisse dennoch mit Sorge.

Sie wollen den Kampf gegen Antisemitismus als Staatsziel in die Verfassungen der Bundesländer aufnehmen. Was versprechen Sie sich davon?

Alle staatlichen Organe wären damit an dieses Staatsziel gebunden. Und das ist alles andere als Symbolpolitik. Es ist eigentlich genau das Gegenteil. Antisemitismusbekämpfung scheint mir die allerhöchste und wichtigste Priorität, weil sich daran das staatliche Handeln, sei es im Land Berlin, sei es in anderen Ländern oder sei es auch im Bund, dann eben auch in der Abwägung mit anderen Staatszielen oder auch mit Grundrechten verbindlich orientieren und in Entscheidungsfindungen einbinden müsste. Die staatlichen Organe, die Behörden müssten dieses Thema in ihren Abwägungen, zum Beispiel auch mit anderen gewährten Grundrechten, explizit gewichten und dann entsprechend abwägen.

Nach dem 7. Oktober 2023 sind Sie im Dauerkriseneinsatz. Hat sich dieser Antisemitismus jetzt in irgendeiner Weise wieder zurückgezogen? Oder ist die Lage immer noch entsprechend gefährlich und virulent, wie sie vor einem halben Jahr war?

Ich habe extrem große Sorgen, dass die öffentliche Wahrnehmung geringer und unsensibler wird. Und das hat damit zu tun, dass sich etwas verschiebt. Also wir haben unmittelbar nach den antisemitischen Terroranschlägen der Hamas am 7. Oktober in den ersten Tagen und Wochen sehr offensiv antisemitisch gewaltverherrlichende Versammlungslagen erlebt. Wir haben Angriffe auf Polizistinnen, Polizisten, Medienvertreterinnen und -vertreter in einer großen Vielzahl erlebt. Diese massive Gewalteskalation war sehr sichtbar, davon gibt es jetzt weniger – aber wir hatten noch vor wenigen Wochen in Berlin einen massiven Gewaltvorfall gegen einen jüdischen Studenten. Die israelfeindlichen, antisemitischen Akteure versuchen gerade, in die Breite zu gehen, in einen Bereich, wo sie mit weniger Widerstand rechnen.

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Welchen Bereich meinen Sie damit?

Ich meine Schulen, Hochschulen und den Kulturbereich. In diesen Institutionen glaubt man an Pluralismus und den Austausch kontroverser Positionen. Da kommen jetzt aber Antisemiten, die wollen nicht diskutieren, die wollen ihren Hass verbreiten. Diese Institutionen sind weniger darauf vorbereitet. Es gibt quasi „Reisekader“, die an unterschiedlichen Orten versuchen, ihre verhetzenden antisemitischen Parolen in die Welt zu setzen. Und wenn so eine Verhetzung, so eine Radikalisierung da ist, muss man permanent auch mit weiterer Gewalt rechnen. Die Bedrohung für Jüdinnen und Juden im Alltag ist da. Wenn jemandem etwa in der U-Bahn einmal eine Kette mit einem Davidstern aus der Jacke rutscht, kann es bei entsprechender Gewaltbereitschaft sein, dass ein antisemitischer Angriff erfolgt.

Samuel Salzborn: „Wehrlose Demokratie? Antisemitismus und die Bedrohung der politischen Ordnung“, Hentrich & Hentrich Verlag 2024



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