Das Haushaltsurteil der Karlsruher Richterinnen und Richter im vorigen November war ein schwerer Schlag für die Ampel. Die oppositionelle Union hat recht bekommen, Kanzler, Vizekanzler und Finanzminister mussten in Windeseile den Etat umbauen und kürzen und Zukunftspläne streichen. Das Urteil mit seiner strengen Auslegung der Schuldenbremse hat obendrein Folgen für den Haushalt 2025. Dieser gilt deshalb innerhalb der Koalition sogar als mögliche Sollbruchstelle im Herbst.

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Die Erschütterung der Bundesregierung ist bis ins Ausland zu spüren – die Wirkung des Bundesverfassungsgerichts auch. Ebenfalls einschneidend, wenn auch nicht in solchem Ausmaß, war das Klimaurteil im Frühjahr 2021, das der großen Koalition unter Angela Merkel eine Einschränkung der Freiheit der jungen Generation durch zu schwache Klimaschutzmaßnahmen attestierte. Auch eine Schmach.

Andere Staaten beneiden uns

Aber genau darum beneiden uns andere Staaten: Um ein derart unabhängiges, unbestechliches Gericht, bei dem man Klage gegen Gesetze einreichen und recht bekommen kann. Im Inland genießt dieses Gericht wie nur wenige Behörden das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger, weil sie erleben, dass tiefgreifende Veränderungen der Regierungspolitik möglich sind, ohne dass Parteipolitik im Spiel ist. International wird Karlsruhe eine Vorbildfunktion zugeschrieben. Auch deshalb gilt unsere Demokratie als so gefestigt.

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Für Verfassungsfeinde in der Politik ist das alles ein Grauen. Und wenn sie ans Ruder kommen, ist es mit der Unabhängigkeit der Justiz vorbei. Ein Blick nach Polen und Ungarn reicht aus. Es spricht für die gebeutelte Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP, dass gerade sie den Schutz dieses Bundesverfassungsgerichts vor Demokratieverächtern jetzt im Grundgesetz zementieren will. Und es ist gut, dass die Union an den Verhandlungstisch zurückgekehrt ist.

Merz lehnt Gespräche über Verfassungsgericht grundsätzlich nicht ab

Unionsfraktionschef Friedrich Merz schließt gesetzliche Änderungen zum Schutz des Bundesverfassungsgerichts vor Demokratiefeinden nicht generell aus.

Doch es bestehen Bedenken, ob es nicht ein Zeichen der Schwäche ist, neben den Zuständigkeiten des Gerichts (Verfassungsbeschwerden/Streit zwischen Staatsorganen) auch seine Organisation im Grundgesetz zu verankern, das nur mit Zweidrittelmehrheit zu ändern ist. Haben wir das wirklich nötig?

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Ja, das haben wir. Denn die Wahl der Richterinnen und Richter mit Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat, deren Zahl, Amtszeit und Altersgrenze im Amt sowie die Festlegung auf zwei Senate – all das steht nicht im Grundgesetz, sondern „nur“ im Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Und dieses Gesetz ist mit einfacher Mehrheit zu kippen.

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Folgende Szenarien wären damit beispielsweise denkbar: Eine Regierung unter Beteiligung von Extremisten hat überhaupt keine Lust auf eine Kontrollinstanz, schafft sich einfach einen dritten Senat mit neuem Aufgabenbereich an, wählt dafür genehme Richterinnen und Richter aus und ändert deren Amtszeit, wie es gerade passt, oder missachtet die Verbindlichkeit der Urteile. Ein für die Politik schmerzhaftes Haushaltsurteil oder Klimaurteil würde es dann entweder gar nicht mehr geben oder eben ignoriert.

Es ist zu hoffen, dass sich Ampel und Union schnell einigen und mit der nötigen Zweidrittelmehrheit das Grundgesetz entsprechend ändern, damit das Bundesverfassungsgericht noch in dieser Wahlperiode vollumfänglich abgesichert wird. Das Argument der Union, es bestehe keine akute Gefahr für das Gericht, ist zwar richtig. Vielleicht ist auch nach der nächsten Bundestagswahl noch alles in Ordnung. Viel weiter kann man nicht in die Zukunft schauen. Aber man kann den Moment verpassen, für die Zukunft vorzubauen. Demokratien sind verletzlich. Karlsruhe ist unser Schutzschild. Es wäre fahrlässig, dies aus der Hand zu geben.



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