Berlin. Wenn sich berühmte Intellektuelle Deutschlands zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine äußern, kann das die Politik kaum ignorieren. Als der weltweit rezipierte Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas bereits im April 2022 schon kurz nach dem Überfall von Verhandlungen gesprochen hatte, während es im Land vor allem um Waffenlieferungen an Kiew ging, herrschte große Aufregung. So sehr, dass Habermas, heute 94 Jahre alt, später deutlich machte, wie erschrocken er über die heftigen Reaktionen war.

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Was hatte er getan? Er hatte in einem Gastbeitrag für die „Süddeutsche Zeitung“ unter anderem dies geschrieben: Noch nehme der Kriegsverbrecher Wladimir Putin im Weltsicherheitsrat den Sitz einer Vetomacht ein und könne seinen Gegnern mit Atomwaffen drohen – „noch muss mit ihm ein Ende des Krieges, wenigstens ein Waffenstillstand verhandelt werden“. Er, Habermas, sehe keine überzeugende Rechtfertigung für die Forderung nach einer Politik, „die – im peinigenden, immer unerträglicher werdenden Anblick der täglich qualvolleren Opfer – den gleichwohl gut begründeten Entschluss der Nichtbeteiligung an diesem Krieg de facto aufs Spiel setzt“.

Historikern fehlt „unzweideutige Solidarität“ und Aufarbeitung der Russland-Politik

Nun haben fünf Historikerinnen und Historiker in entgegengesetzter Tonlage der SPD-Führung einen Brandbrief geschrieben. Was die SPD besonders trifft: Unter den Wissenschaftlern ist Heinrich August Winkler, 85 Jahre alt und seit 62 Jahren in der SPD. Er zählt zu den wichtigsten Historikern der Gegenwart. In dem Brief wird Bundeskanzler Olaf Scholz sowie den Partei- und Fraktionsspitzen vorgeworfen, es an „unzweideutiger Solidarität mit der Ukraine“ vermissen zu lassen und in Fragen von Waffenlieferungen „immer wieder willkürlich, erratisch und nicht selten faktisch falsch“ zu argumentieren.

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Ferner fehle innerhalb der SPD eine ehrliche Aufarbeitung der Fehler in der Russland-Politik der letzten Jahrzehnte. Und: Scholz und viele SPD-Spitzenpolitiker ignorierten wertvolle Wissensressourcen. „Die SPD macht sich so unglaubwürdig und bereitet einer gefährlichen Desinformationskultur den Boden.“ Von „gefährlicher Realitätsverweigerung“ ist die Rede und einer zu schwachen Haltung gegenüber Putin.

dpatopbilder epa04170019 Crimean people watch a TV broadcast with Russian President Vladimir Putin speaking during his annual call-in live broadcast, on the seafront in Sevastopol, Crimea, 17 April 2014. The decision to send tanks and combat aircraft to eastern Ukraine is another serious crime committed by the authorities in Kiev, Putin said. He called on the Ukrainian government to engage in 'real dialogue' with its Russian-speaking population, adding that the deployment of 'military planes and tanks' would not solve the crisis in eastern Ukraine. In his televized call-in show Putin said that Kiev's decision to curb the protests in the eastern region of Donetsk with military force was a 'crime.' EPA/ANTON PEDKO ++

„Der Westen hat dem Treiben Russlands zu lange tatenlos zugeschaut“

Mit einem Duma-Beschluss wurde die russische Annexion der Krim am 20. März 2014 offiziell. Vorausgegangen waren die Pro-Europa-Demonstrationen auf dem Maidan in Kiew und die Gründung separatistischer Republiken im Osten der Ukraine. Der Westen schaute den Entwicklungen untätig zu – aus Trägheit und Bequemlichkeit, sagt Historiker Tim Geiger.

SPD will Vorhaltungen nicht gelten lassen

Die Post ist schwere Kost für das Willy-Brandt-Haus. Genossinnen und Genossen fühlen sich ungerecht behandelt, weil sie nach eigenem Empfinden vieles genau so machen, was die Historiker fordern. Die Russland-Politik sei mit einem Parteitagsbeschluss vom Dezember 2023 quasi revidiert worden. Und vor allem diesen Vorhalt will man nicht gelten lassen: Putin werde nur zu Verhandlungen bereit sein, „wenn ihm unzweideutig vermittelt wird, dass der Westen seine erheblich größeren Ressourcen so lange wie nötig einsetzen wird, um eine Niederlage der Ukraine zu verhindern“. Genau das predige Scholz den ganzen Tag. „So lange wie nötig“, sagt der Kanzler tatsächlich bei jeder Gelegenheit. Und auch diesen Appell der Historiker erfüllt die SPD aus eigener Sicht: die klare Aussage, „dass es nicht darum geht, Russland anzugreifen und zu schädigen, sondern die 1991 auch von Russland anerkannte Unabhängigkeit der Ukraine wiederherzustellen“.

Aus SPD-Kreisen verlautet, die Parteiführung sei mit den Unterzeichnerinnen und Unterzeichnen des Briefes im Gespräch. Der Historiker Jan Claas Behrends von der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) bestätigt das dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Es habe eine Einladung zu einem Gespräch gegeben. Mit Generalsekretär Kevin Kühnert.

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‚Einfrieren‘ wäre Beendigung zugunsten des Angreifers

Sie werden – wenn es denn zu einem solchen Treffen kommt – dann wohl auch über die Kritik an der Unstimmigkeit zwischen Deutschland und Frankreich sprechen. Scholz hatte die Formulierung von Präsident Emmanuel Macron scharf zurückgewiesen, auch Bodentruppen für die Ukraine nicht auszuschließen. Winkler und seine Kolleginnen und Kollegen meinen dazu: „Es ist nicht hilfreich, öffentlich und noch dazu unabgestimmt zu erklären, was Deutschland auf keinen Fall zur Unterstützung der Ukraine tun werde“.

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Und schließlich noch dies: „Als besonders fatal empfinden wir die Äußerungen des Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich, der von einem ‚Einfrieren‘ des Ukraine-Krieges gesprochen hat, was faktisch eine Beendigung zugunsten des Angreifers bedeuten würde.“ Die Erfahrungen mit den Minsker Verträgen nach der russischen Annexion der Krim als auch das Geschehen in den russisch besetzten Gebieten der Ukraine und nicht zuletzt die Drohungen Russlands, weitere europäische Länder anzugreifen, würden dadurch ignoriert. „Die Vorstellung, Risiken würden allein durch Zurückhaltung minimiert, ignoriert die Eskalationsgefahr, die entsteht, wenn Putin keine Grenzen gesetzt werden.“

Putin habe nur dann ein Interesse, den Krieg zu beenden, wenn ihm die notwendige Stärke entgegengesetzt werde. „Diese Erkenntnis scheint sich in der SPD nach wie vor nicht durchgesetzt zu haben. Wir halten diese Realitätsverweigerung für hochgefährlich und appellieren an Euch, endlich eine klare Strategie für einen Sieg der Ukraine zu benennen.“



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