Wladimir Putin steckt hinter dem Anschlag auf die Moskauer Crocus City Hall – diese Theorie von Kreml-Insider Anders Åslund sorgt auf der Plattform X (vormals Twitter) gerade für Aufsehen. Laut Åslund habe der russische Geheimdienst IS-Kämpfer zu dem Terroranschlag in Moskau angestiftet, um den Angriff dann wiederum der Ukraine in die Schuhe zu schieben. Somit habe Putin einen weiteren Grund geschaffen, um seinen Krieg gegen das Land zu rechtfertigen.

Diese These sorgt auf X für viel Zustimmung: „Natürlich war es Putin!“, schreibt eine Nutzerin unter Åslunds Post, „Es ist ganz klar seine Handschrift“, schreibt ein anderer. Diese Aussagen könnte man auf den ersten Blick für die üblichen Verschwörungstheorien nach einem terroristischen Anschlag halten. Vor allem, weil sich die Terrororganisation „Islamischer Staat“ bereits zu dem brutalen Attentat, bei dem 137 Menschen starben, bekannt hat.

Doch der Verbreiter der Theorie ist kein Unbekannter: Anders Åslund war in den 90er-Jahren Berater des ersten russischen Präsidenten Boris Jelzin und schrieb zahlreiche Bücher über die Spannungen zwischen Russland und der Ukraine; in den Medien wird er als Russland-Kenner oft und gerne zu Themen rund um den Ukraine-Krieg befragt.

Hat der Kreml-Insider den wahren Drahtzieher des Anschlags auf die Moskauer Konzerthalle entlarvt?

Ex-Jelzin-Berater nennt zehn Indizien, die für ihn nur einen Schluss zulassen

Um seine These zu stützen, nennt Åslund X zehn Indizien, die für ihn ohne Zweifel auf eine Beteiligung des Kremls schließen lassen:

  1. Laut Åslund seien die vier Terroristen in Tarnkleidung mit Kalaschnikows in einem Auto angekommen – es habe keine Kontrollen auf den Straßen gegeben.
  2. In der Konzerthalle sei kein Sicherheitsdienst anwesend gewesen.
  3. Die sonst üblichen Metalldetektoren seien ausgeschaltet worden.
  4. Die Terroristen seien laut Åslund ganze 18 Minuten in der Crocus City Hall gewesen. Währenddessen seien keine Polizei und auch keine Sicherheitskräfte gekommen.
  5. Das Polizeipräsidium befinde sich nur wenige Gehminuten von der Halle entfernt, trotzdem sei die Polizei erst nach einer Stunde dort eingetroffen.
  6. Die mutmaßlichen Terroristen seien mit dem gleichen Auto angekommen, mit dem sie dann auch wieder weggefahren sind. Dies würde, so Åslund,  kein seriöser Terrorist tun.
  7. Die Terroristen seien vor ihrer Ankunft in Moskau fünf Stunden durchs Land gefahren, nahe an der belarussischen und ukrainischen Grenze. Trotzdem seien sie auf ihrem gesamten Weg nie von russischen Grenzbeamten kontrolliert worden. Dies erscheine ihm unmöglich.
  8. Putin und die gesamte Kreml-Propaganda beschuldige die Ukraine ohne jeglichen Beweis – das sei, so Jelzins Ex-Berater, „völlig unglaubwürdig“
  9. Terroristische Angriffe und rücksichtslose Tötungen stünden in Putins Handbuch. Er habe bereits 1999 Bombenanschläge auf Häuser, 2002 einen Anschlag auf das Moskauer Dubrowka-Theater und ein Schulmassaker in Beslan 2004 veranlasst, um kriegerische Interventionen in anderen Ländern zu rechtfertigen.
  10. Der russische Geheimdienst habe bereits früher ISIS-Kämpfer eingesetzt. Åslund fragt: „Warum nicht auch dieses Mal?“

Experte: „Vorwürfe lehnen sich an Verschwörungstheorien“

Doch ist Russland hier wirklich selbst der Täter? „Das ist ein unwahrscheinliches Erklärungsszenario“, kommentiert Russland-Experte Gerhard Mangott Åslunds Theorie im Gespräch mit FOCUS online. Die Vorwürfe, „die russische Führung könnte den Terroranschlag auf die Crocus City Hall inszeniert haben, um daraus eine Rechtfertigung für weitere Repressionen im Inneren und eine Mobilmachung gegen die Ukraine zu erhalten“ sei zwar „nicht völlig von der Hand zu weisen“, doch die Behauptungen, die der Ex-Berater der russischen Regierung hier aufzählt, seien „nicht wirklich belastbar“.

Vor allem die von Åslund unter Punkt 9 herangezogenen Beispiele von früheren Anschlägen, die Putin bereits verübt hätte, um bestimmte kriegerische Aktionen in anderen Ländern zu rechtfertigen, sieht Mangott kritisch: „Die Vorwürfe lehnen sich an die Verschwörungstheorien, Putin habe im September 1999 die Anschläge auf mehrere Wohngebäude in Moskau selbst autorisiert, um den darauffolgenden Tschetschenienkrieg zu rechtfertigen.“ Dieser Krieg habe dem russischen Präsidenten letztendlich zum Wahlsieg im März 2000 verholfen. Ob Putin die Anschläge aber tatsächlich selbst geplant hat, ist bis heute nicht geklärt.

In Russland rührt sich gewaltbereiter Widerstand

Außerdem habe der Terroranschlag auf die Konzerthalle nicht nur Vorteile für die russische Regierung. Im Gegenteil: Er bringe, so Mangott, die russische Führung vielmehr in Erklärungsnot: Viele Russen stellten sich nun die Frage, „warum die Sicherheitsdienste nicht in der Lage waren, die Anschlagspläne aufzudecken und das Gemetzel zu verhindern”. Zudem bringe der Anschlag die Regierung in einen „Handlungszwang, um dieses Versagen durch Vergeltungsaktionen zu übertünchen“.

Auch Militärexperte Ralph D. Thiele steht Åslunds Theorie skeptisch gegenüber: „Das eigene Bekenntnis und die Bestätigung durch zahlreiche internationale Experten markieren den Islamischen Staat zum wahrscheinlichsten Täter“, so Thiele.

Doch der Experte warnt auch vor zu schnellen Urteilen: Der brutale zweijährige Krieg des Kremls in der Ukraine habe „neue Feinde geschaffen“ und dazu geführt, dass „immer mehr Waffen im Umlauf sind“. In der russischen Heimat rühre sich, so Thiele weiter, „nationalistischer, gewaltbereiter Widerstand.“ Außerdem hätte nicht zuletzt die Beteiligung des Kremls an den blutigen Konflikten in Tschetschenien und Dagestan Russland selbst zu einem Ziel für islamistische Terrorgruppen verschiedener Couleur gemacht.





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