Leipzig. Der Papst wirkt zufrieden. Vor ihm der Strand, hinter ihm das Meer, um die Beine flattert eine Hose in Regenbogen­farben. Das Foto hat Léa Steinacker selbst gemacht – mithilfe von KI. Wer benutzt hier wen? „Alles überall auf einmal“ heißt das Buch von Miriam Meckel und Léa Steinacker, in dem sie untersuchen, „wie Künstliche Intelligenz unsere Welt verändert und was wir dabei gewinnen können“. Zur Buchmesse haben sie es in Leipzig vorgestellt.

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Dieser „Leipzig liest“-Abend in der Bibliotheca Albertina ist keine Lesung, er ist auch kein Gespräch. Es ist eine Präsentation, in der Meckel und Steinacker im schnellen Wechsel kurze Passagen aus ihrem Bestseller mit Grundsätzlichem über KI und Hinweisen auf ihr „ada Learning“-Programm verschränken. In knackigen 60 Minuten erfährt das Publikum, dass den November 2022 einen Paradigmen­wechsel markiert: Der Chatbot ChatGPT wurde freigegeben.

KI: Unfassbar hilfreich – oder Motor der Unmündigkeit?

Miriam Meckel (links), Léa Steinacker und ein Papst in Regenbogen­hose bei der Präsentation des Buches „Alles überall auf einmal – Wie Künstliche Intelligenz unsere Welt verändert und was wir dabei gewinnen können“ in der Bibliotheca Albertina.

Miriam Meckel (links), Léa Steinacker und ein Papst in Regenbogen­hose bei der Präsentation des Buches „Alles überall auf einmal – Wie Künstliche Intelligenz unsere Welt verändert und was wir dabei gewinnen können“ in der Bibliotheca Albertina.

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Aus der Illusion, von einer Maschine oder Technologie verstanden zu werden, folge ein blindes Vertrauen in Systeme, die menschliche Verhaltens­weisen plausibel nachahmen können. Es gebe zwar das Problem der Desinformation und Manipulation durch gefälschte Inhalte, doch als Werkzeug sei KI „unfassbar hilfreich“. Das ist bekannt. Es kommt darauf an, über den Aspekt des Hilfreichen, über Effizienz und Schnelligkeit hinauszudenken, sich darüber zu verständigen, welche Fähigkeiten und Interessen Menschen aufgeben, wenn sie sich einreden lassen, die „Hilfe“ sei zu ihrem Besten – und was es für Demokratien bedeutet, wenn als Fortschritt gepriesen wird, was Immanuel Kant 1784 Unmündigkeit nannte, nämlich „das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“.

So stößt eines der Trend­themen dieser Leipziger Buchmesse in der Albertina keine neuen Türen auf. Doch neben den Visionen, dem Weiterdenken, steht auch ja die Bestätigung, die Unterhaltung auf der Liste der Erwartungen, mit denen sich die Leipziger und ihre Gäste in die Kneipen und Säle, Clubs und Kultur­häuser setzen, um mehr zu erfahren, als zwischen zwei Buchdeckel passt. Um von Autorinnen und Autoren zu hören, was sie bewegt, um mit Widerspruch konfrontiert zu werden, mit Solidarität, überraschend anderen Sichtweisen. Leute, lest die Signale!

Omri Boehm, Identität und eine Geheimkraft

Diesen Anspruch erfüllt an den vier Messetagen – parallel zum Angebot der Aussteller in den Messehallen – das Fest „Leipzig liest“ mit seiner Menge und Vielfalt an Veranstaltungen auf der Messe und in der Stadt. Mal im Halbstundentakt, mal in Nächten nach Partyart. Dazwischen sind tiefer gehende Auseinander­setzungen mit einem Thema, einer Person, einem Buch möglich. Sie setzen auf das Vertrauen in das geschriebene und gesprochene Wort. Ein Vertrauen, das gestärkt wird durch Misstrauen in KI und durch die Geheimkraft des Erzählens. Denn Geschichten sprechen aus einem Erfahrungs­raum, den man teilen kann.

Zu den thematischen Schwerpunkten dieser Buchmesse gehören Identität und Rechts­populismus. Als der deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm zur Eröffnung im Gewandhaus mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet wurde, betrat in seiner Rede und der Laudatio von Eva Illouz die Auseinander­setzung mit Identitäts­debatten eine intellektuelle Ebene, die hoffentlich zunehmend Ausgangs­punkt des öffentlichen Streits und bald Höhe der Zeit ist.

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Ist das Mode – oder ein Statement für Oranje?

Stimmen gegen rechts­populistische Kräfte hörbar zu machen war Anliegen des Abends „Alles außer Hass. Ein literarisches Statement“ am Samstag in der Schaubühne Lindenfels. Dort haben die Niederlande und Flandern ihre Gastland­zentrale eingerichtet. Sie sind unter dem Motto „Alles außer flach“ zwischen Messestand, Literaturhaus und Schauspiel­residenz, Galerie KUB und Museum der bildenden Künste so präsent, dass man angesichts auffallend vieler in Orange gekleideter Menschen überlegt: Ist das die Modefarbe des Frühjahrs – oder ein Statement für Oranje?

Von einem blauen Vorhang ist die Bühne im Ballsaal der Schaubühne dominiert – so gelupft, dass er stets eine Öffnung lässt. Wenn Demokratie und Menschlichkeit keine Selbstverständlichkeit seien, dürfe Literatur nicht nur unterhalten, sondern müsse auch aktivieren, sagen die beiden Gastland­kuratorinnen Bettina Baltschev und Margot Dijkgraaf. Dafür lesen die niederländischen, flämischen und Leipziger Beteiligten nicht aus eigenen Werken, sondern aus Romanen oder Gedichtbänden anderer.

Simone Atangana Bekono liest aus „Eugen Onegin“, weil Puschkins Urgroßvater ein afrikanischer Sklave war. Martina Hefter hat sich für einen Auszug aus Marlen Haushofers „Die Wand“ entschieden, weil es eine „radikale Reflexion über das Zusammenleben der Menschen“ ist. Wer hätte sich die Welt von heute vor 40 Jahren vorstellen können, fragt Gijs Wilbrink mit einem Text von Rebecca Solnit. „Wir fühlen uns vom deutschen Publikum umarmt!“, zogen die Gastland­organisatoren am Sonntag Bilanz. Und in manchen Momenten fühlte sich die ganze Buchmesse wie eine große Umarmung an.

Bilanz mit Besucherplus

Mit einem Besucherplus ist die Leipziger Buchmesse am Sonntag zu Ende gegangen. An vier Tagen kamen 283.000 Besucherinnen und Besucher auf das Messegelände und zum Lesefest „Leipzig liest“. Das teilten die Organisatoren zum Abschluss mit. Im Vorjahr waren es 274.000 Menschen gewesen. 2019, dem letzte Jahr vor drei Absagen wegen der Corona-Pandemie, kamen 286.000 Besucher. In diesem Jahr haben 2085 Aussteller aus 40 Ländern ihre Novitäten präsentiert.

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Astrid Böhmisch, seit Januar Direktorin der Leipziger Buchmesse, zeigte sich „hochzufrieden über den großen Zuspruch, den wir hier in den vergangenen Tagen erlebt haben“. In einer Pressemitteilung würdigt sie die „starke Plattform für vielfältige Meinungen und Impulse“. Vom Lesefest „Leipzig liest“ als einer „wunderbaren Plattform für wichtige Diskurse, anregenden Meinungsaustausch und erstklassige Unterhaltung“ sprach der Geschäftsführer der Leipziger Messe, Martin Buhl-Wagner. Erneut habe die Leipziger Buchmesse gezeigt, „wie stark die Kraft des freien Wortes ist, die es gerade in schwierigen Zeiten wie diesen braucht“.

Dieser Artikel erschien erstmals in der „Leipziger Volkszeitung“.



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