München – Fast ihr gesamtes Erwachsenenleben hat Helga K. (72) in ihrer Wohnung in Milbertshofen gelebt. Sie hat hier ihren Sohn großgezogen, sie hat ihre Ärzte und Freunde in der Nähe, ihre Arbeitsstelle, den Metzger und einen Supermarkt. Auch zum Grab ihrer Tochter, das sie regelmäßig auf dem Nordfriedhof besucht, muss sie nicht weit fahren.

Seit 50 Jahren lebt Helga K. in ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung (knapp 62 Quadratmeter). Im Mietvertrag steht als Einzugsdatum der 1. Juni 1974. Doch nun setzt die Vermieterin Helga K. auf die Straße – wegen Eigenbedarfs. Sie gibt an, dass sie selbst einziehen will, zusammen mit ihrer Schwester. Zuerst schickte die Vermieterin die Kündigung, dann die Räumungsklage. Vor Gericht bekam die Wohnungseigentümerin recht, Helga K. sei kein Härtefall.

Obwohl sie 1000 Euro im Monat zahlen könnte: Seniorin findet keine Wohnung in München

“Bis 29. November muss ich ausgezogen sein”, sagt die Münchnerin. “Ich verliere alles: mein Zuhause, meine Heimat und meine Arbeit. Ich werde in eine andere Stadt ziehen müssen.”

Die 72-Jährige hat alles unternommen, um eine andere Wohnung zu finden. Das musste sie in mehreren Gerichtsprozessen nachweisen. “Aber ich finde einfach nichts Bezahlbares. Meistens bekomme ich nicht mal eine Antwort”, erzählt sie. “Dabei ist meine Rente gar nicht so schlecht.”  Früher war die Münchnerin bei Verlagen und in einer Werbeagentur angestellt. Und auch heute noch arbeitet sie in Teilzeit – als Mini-Jobberin für einen Verein in Schwabing. 1000 Euro warm könnte Helga K. für eine Wohnung zahlen.

Die “Münchner Wohnen” können Helga K. nicht helfen

Die städtischen Wohnungsgesellschaften, die seit Januar 2023 “Münchner Wohnen” heißen, konnten ihr auch nicht helfen – obwohl Helga K. einen positiven Bescheid für eine Zwei-Zimmer-Wohnung nach dem München-Modell hat. “Ich habe mich immer wieder beworben – keine Chance!” 600 bis 700 Interessenten würden sich bewerben, wenn mal eine günstige, freie Wohnung inseriert werde. Helga K. bekam immer dieselbe Antwort: “Aufgrund der Vielzahl der eingegangenen Anfragen haben wir unter allen Bewerbern eine anonymisierte und automatische Selektion durchgeführt, bei der Sie nicht ausgewählt wurden.”

Das Einzige, was die Rentnerin über ein Online-Portal fand, war ein einzelnes Zimmer, viel kleiner als ihre Wohnung, weit weg von München. “Das ist so klein, da  könnte ich nicht mal meine Möbel mitnehmen”, sagt Helga K.: ihren Esstisch oder den alten Sekretär etwa, an dem sie täglich sitzt. Ein befreundeter Lektor hatte ihn ihr vermacht.

Helga K. am Sekretär, an dem sie immer sitzt und nun am PC nach Wohnungsinseraten sucht – den Schreibtisch hat ihr ein befreundeter Lektor vermacht
Helga K. am Sekretär, an dem sie immer sitzt und nun am PC nach Wohnungsinseraten sucht – den Schreibtisch hat ihr ein befreundeter Lektor vermacht
© Daniel von Loeper
Helga K. am Sekretär, an dem sie immer sitzt und nun am PC nach Wohnungsinseraten sucht – den Schreibtisch hat ihr ein befreundeter Lektor vermacht

von Daniel von Loeper

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Helga K. ist kein Einzelfall. Laut Mieterverein steigt die Zahl der Rechtsberatungen. Beim Amtsgericht wurden im vergangenen Jahr 1833 Räumungsklagen erfasst, 2022 waren es 1684. Das Gericht schlüsselt allerdings Eigenbedarfskündigungen nicht separat auf, die Zahl beinhaltet also auch Räumungsklagen aus anderen Gründen.

“Mindestens ein Drittel ist vorgetäuscht”: Immer mehr Kündigungen wegen Eigenbedarf in München

Die auf Mietrecht spezialisierte Rechtsanwältin Frauke Odenthal hat Helga K. vor Gericht vertreten. Sie vertritt viele, die Mitglied sind im Mieterverein. “In den letzten zehn Jahren hat sich bei mir die Zahl von Eigenbedarfskündigungen mindestens verdoppelt”, sagt die Juristin. Allein in den vergangenen drei Jahren habe sie etwa 150 betroffene Mieter beraten. Mittlerweile träfe es alle Schichten. “Ganz besonders betroffen sind aber ältere, häufig alleinstehende Frauen. Sie haben zugunsten der Kinder weniger gearbeitet und dadurch niedrige Renten.” Erschwerend käme dazu: “Viele wollen nicht an Ältere vermieten.”

Die Anwältin geht zudem davon aus, dass manch ein Vermieter seinen alten Mieter nur loswerden will, um die Wohnung teurer wieder neu zu vermieten. Odenthal schätzt: “Mindestens ein Drittel der Eigenbedarfskündigungen ist vorgetäuscht.” Belegen lässt sich das allerdings nicht, einen vorgetäuschten Eigenbedarf vor Gericht nachzuweisen, ist sehr schwierig.

Die Anwältin ist sicher: Immer mehr Menschen werden München verlassen, weil sie keine Wohnung mehr finden. Auch Helga K. wird wohl nichts anderes übrig bleiben. Sieben Monate bleiben ihr noch in ihrem Zuhause. Dann wird sie in eine andere Stadt ziehen und alles zurücklassen müssen: ihre Wohnung, ihren Sohn, das Grab der Tochter, ihre Arbeit – alles.

Weiterer Dramatischer Fall in München: 80-Jährige ist nach Zwangsräumung obdachlos  

Welch dramatische Folgen eine Eigenbedarfskündigung für Betroffene haben kann, zeigt dieser aktuelle Fall aus München: Eine 80-Jährige lebte 40 Jahre in ihrer Wohnung – dann bekam sie die Kündigung, wurde schließlich zwangsgeräumt.

Die Rentnerin landete auf der Straße – sie ist jetzt obdachlos. “Seit ein paar Tagen ist sie bei uns. Wir haben sie aufgenommen”, sagt Patricia Szeiler, die Leiterin von Karla 51, einer Notunterkunft für obdachlose Frauen. “Es geht ihr gar nicht gut.” Die erste Nacht habe die Rentnerin in einem Vier-Bett-Zimmer verbracht, inzwischen sei sie in einem Einzelzimmer mit Nasszelle untergebracht.

Die Räumung habe nicht daran gelegen, dass die 80-Jährige zu wenig Geld zur Verfügung gehabt habe. “Sie hat eine ordentliche Rente”, so Szeiler. “Wir alle im Team sind schockiert.” Man werde nun versuchen, einen Platz in einem Seniorenheim für die alte Frau zu finden.   


Kinder, Eltern, geschiedene Ehepartner – wer bei Eigendarf einziehen darf 

Eigenbedarf gilt laut Bürgerlichem Gesetzbuch (BGB) als berechtigtes Interesse des Vermieters und liegt vor, wenn der Vermieter die Räume als Wohnung für sich, seine Familienangehörigen oder Angehörige seines Haushalts benötigt. Als Familienangehörige gelten alle Personen, die vor Gericht ein Zeugnisverweigerungsrecht haben. Also für Kinder, Eltern, Geschwister, Enkel, Großeltern und leibliche Neffen und Nichten. Auch Ehegatten zählen dazu – sogar nach Scheidungen.

Außerdem können Vermieter für einen “privilegierten Personenkreis” Eigenbedarf geltend machen, dazu gehören laut Rechtsprechung Schwiegerkinder und -eltern. Dagegen kann für Pflegeeltern und Pflegekinder sowie Großneffen Eigenbedarf nur geltend gemacht werden, wenn ein “besonders enger Kontakt” zum Vermieter besteht.





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