Hannover. „Es war offensichtlich für uns, dass wir Serben in einer brutalen Diktatur leben. Wir hatten Angst vor der Geheimpolizei und davor, in den Krieg geschickt zu werden“, erinnert sich Igor Bandovic. Als Student hatte der heutige Jurist bereits zwei Kriege miterlebt – beide infolge der Auflösung Jugoslawiens, bei der sich nach Slowenien und Kroatien auch Bosnien-Herzegowina von Belgrad lossagte. 1998 ahnte Bandovic bereits, dass ein weiterer Krieg bevorstand.

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Unter dem Vorwand, die Guerillas der ultranationalistischen Kosovarischen Befreiungsarmee (UCK) zu bekämpfen, hatte der serbische Machthaber Slobodan Milosevic eine brutale Kampagne gegen die albanische Bevölkerungsmehrheit im Kosovo gestartet. „Dabei hatten wir keinerlei Groll gegen irgendeine andere Nation im ehemaligen Jugoslawien. Wir wussten, dass es Milosevics Krieg war“, sagt Bandovic. Doch kein Studentenprotest und keine regierungskritische Kolumne halfen mehr, als am Abend des 24. März 1999 ein spanischer Jagdbomber seine Ladung über jugoslawischen Militärflugplätzen abwarf – und in den folgenden 78 Tagen rund 10.000 weitere Luftschläge folgen sollten. Um den Kosovokrieg zu beenden, hatte die Nato ohne ein UN-Mandat Milosevic den Kampf angesagt. Eigenen Worten nach galt es, eine „humanitäre Katastrophe“ im Kosovo zu verhindern.

Bei den Angriffen auf jugoslawische Militär- und Regierungsziele kamen zwischen 400 und 760 Zivilisten ums Leben. Die Nato machte dafür fehlerhafte Aufklärung, schlechte Wetterverhältnisse und defekte Munition ebenso verantwortlich wie die menschlichen Schutzschilde, auf die Jugoslawiens Armee zurückgriff: Militärkonvois, vermischt mit zivilen Fahrzeugen.

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Zivile Opfer bei den Einsätzen

In einem Bericht dokumentierte Amnesty International später einen Angriff auf Serbiens drittgrößte Stadt Nis am 7. Mai: Im Wohngebiet hätten zwei Nato-Bomben ihre Tochtergeschosse ausgespien, die 14 Menschen in den Tod rissen und 30 verletzten. „Die Bomben fielen auf einen belebten Stadtteil zu einer Tageszeit, als die Leute in den Straßen und am Markt waren, anstatt in den Luftschutzbunkern, wo sie bereits die Nacht verbracht hatten“, heißt es in dem Bericht. Bei einem weiteren Schlag habe ein F-15-Kampfflieger mindestens 20 Passagiere getötet, als seine Geschosse in einem Zug einschlugen statt in der anvisierten Brücke. Unvergessen bleibt aus diesen Tagen der Begriff „Kollateralschaden“. Mit ihm rechtfertigte die Nato die zivilen Opfer ihrer Einsätze.

Zumindest aus politischer Sicht sei der Nato-Einsatz als Erfolg zu werten, sagt der langjährige Südosteuropa-Korrespondent und Buchautor Norbert Mappes-Niediek: „Der Krieg im Kosovo wurde beendet – ein Krieg, der ohne diese Intervention weitergegangen wäre.“ Am Tag, an dem die erste Bombe fiel, verließ er gemeinsam mit anderen westlichen Reportern das Kosovo in Richtung Skopje, um in Nordmazedonien und Albanien die unzähligen Geflüchteten zu interviewen. Auf beiden Seiten der Front hatte sich der Kriegsalltag im Laufe der Nato-Intervention ins Unerträgliche gesteigert: Als sich eine Niederlage abzeichnete, verschärften Milosevics Truppen ihre Blutkampagne gegen die Kosovo-Albaner, ebenso wie die UCK ihre Angriffe auf Serben verschärfte. 800.000 Menschen, fast die Hälfte der Bewohner des Kosovo, waren gegen Ende des Bombardements auf der Flucht.

800.000 Menschen auf der Flucht

In Belgrad hat der 78-tägige Nato-Einsatz den Blick auf den Westen nachhaltig geprägt. „Die Bombardierung hat selbst unter den moderatesten Serben negative Gefühle hervorgerufen“, sagt Politanalyst Bandovic. Wieso sollte jemand, der im Luftschutzbunker sitzt, zum Angreifer halten? Diese Frage nährt bis heute die Skepsis gegenüber Washington und Berlin. „Tatsächlich wurde diese Gefühlslage in den letzten zehn Jahren von jenen ausgenutzt und manipuliert, die damals schon an der Macht waren“, so Bandovic: Aleksandar Vucic und Ivica Dacic dienten unter Autokrat Milosevic einst als Propagandaminister und Pressesprecher. Heute prägen sie als Präsident und Außenminister den Alltag der Serben – ein Alltag, der sich zunehmend von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit entfernt.

Proteste mit Brandbomben

Gerade mal 245 Kilometer Luftlinie von Belgrad entfernt liegt Pristina. Kosovos moderne Hauptstadt ist geprägt von Straßencafés, dem liberalen Islam ihrer 200.000 Bewohner – und den Autos, die mit den Aufschriften „KFOR“ und „EULEX“ durch die Straßen jagen. Immer noch sind internationale Truppen im Kosovo stationiert, um den Frieden zu wahren. Vergangenes Jahr standen sie im serbisch bewohnten Nordkosovo Demonstranten gegenüber, die sie im Zuge eines Protests gegen ethnisch-albanische Bürgermeister mit Brandbomben bewarfen.

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Seit Jahren halten die Kosovo-Serben den Politikern in Pristina kulturelle und politische Unterdrückung vor. Mehrere ihrer serbisch-orthodoxen Kirchen wurden in katholische Kirchen umgewidmet. Laut Experten ein Versuch, das serbische Erbe des Kosovo auszulöschen. Kritik von westlichen Verbündeten musste Pristina jüngst auch für seine Währungspolitik einstecken. Obwohl Tausende Kosovo-Serben ihre Gehälter und Renten in Dinar erhalten, verbannte Kosovos Zentralbank die serbische Währung im Februar, um sie durch den Euro zu ersetzen. Belgrad stellte daraufhin Geldautomaten an der Grenze auf.

Für Vjosa Osmani, Präsidentin des Kosovo, ist der 24. März 1999 der Tag, an dem der Westen ihrem Land „Hoffnung und Frieden“ schenkte".

Für Vjosa Osmani, Präsidentin des Kosovo, ist der 24. März 1999 der Tag, an dem der Westen ihrem Land „Hoffnung und Frieden“ schenkte”.

Der 24. März ist ein Gedenktag in beiden Ländern. Während Politiker in Belgrad an serbische „Helden“ und ermordete Zivilisten erinnern, ist es für Kosovos Präsidentin Vjosa Osmani der Tag, an dem der Westen ihrem Land „Hoffnung und Freiheit“ schenkte. Arben Hajrullahu hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass die Nachbarn irgendwann zu einer gemeinsamen Geschichtsdeutung finden. „Diese Vision sollte nie ausgeschlossen werden“, meint der Politologe der Universität Pristina. Eine Voraussetzung aber sei die gegenseitige Anerkennung der beiden Staaten.

Rechtliche Aufarbeitung noch nicht beendet

Und auch die rechtliche Aufarbeitung dauert fort. Milosevic, einer der Hauptdrahtzieher in den Jugoslawien-Kriegen der Neunzigerjahre, starb 2006 in seiner Zelle in Den Haag an einem Herzinfarkt – noch ehe das UN-Gericht ein Urteil fällen konnte. Unterdessen müssen sich der kosovarische Politiker Hashim Thaçi und andere ehemalige Anführer der UCK vor dem Kosovo-Sondertribunal in Den Haag verantworten. Ihnen werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen.



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