Dann griff Nordkorea an, und auf einmal war Japan in Gefahr. Es waren am Donnerstag erst ein paar Minuten gespielt in der zweiten Halbzeit des WM-Qualifikationsspiels im Nationalstadion von Tokio. Die Kräfte schienen sich zu verschieben. Das Heimteam von Trainer Hajime Moriyasu hatte vor der Pause eigentlich alles im Griff gehabt, früh das 1:0 erzielt, mit ansehnlichem Passspiel Chance um Chance herausgearbeitet. Die Nordkoreaner wirkten anfällig und zu schwach für gefährliche Konter. Aber jetzt sahen sie anders aus, selbstbewusster, mutiger. Sie rückten nach vorne. Aus dem Nichts kam ein Schuss. Der Ball prallte gegen den Pfosten des japanischen Tores und kam gleich wieder zurück. Plötzlich lag er im Tor.

Ausgleich? Nein, Abseits. Vergebliche nordkoreanische Proteste. Japan fand zurück zu seinem Spiel. Die Führung hielt, aber die Partie war eine Lehre: Auch wer den Ball mit feiner Technik führt, darf die Kraft der Nordkoreaner nicht unterschätzen.

Wenn Mannschaften aus Nordkorea auftreten, ist das die Chance auf einen Eindruck, den man sonst nicht bekommt. Nordkoreas sozialistische Parteidiktatur ist eines der geheimnisvollsten Regime der Welt. Streng bewacht, abgeschottet, autoritär und nach außen hin sehr klar in seiner Entschlossenheit, sich mit Atomwaffen zu verteidigen. In den freiheitlichen Nationen des Westens behalten Geheimdienstler, Diplomaten und Wissenschaftler das Land im Blick. Sie versuchen Schlüsse zu ziehen aus jeder Bewegung, die sie in Satellitenbildern erkennen können, aus jeder Nachricht, welche die Staatsmedien über Machthaber Kim Jong-un veröffentlichen. Was will Nordkorea? Was macht Nordkorea? Wie geht es Nordkorea? Das sind die Kernfragen.

Dreieinhalb Jahre war es im Weltsport so, als sei Nordkorea verschwunden

Der internationale Spitzensport war immer schon das einzige Metier, in dem Nordkorea darauf zumindest eine oberflächliche Antwort gab. Sie lautete: Uns geht es gut genug, um eine Gruppe fitter Athleten zusammenzustellen. Bei der Fußball-WM 2010 in Südafrika zum Beispiel, als Nordkorea zwar sieglos ausschied, aber im Auftaktspiel nur 1:2 gegen Brasilien verlor.

Oder im Oktober 2019, in der Qualifikation für die WM 2022 in Katar. Nordkoreas Auswahl empfing damals das Team Südkoreas in Pjöngjang. Seit dem Korea-Krieg von 1950 bis 1953 befinden sich beide Koreas praktisch im Kriegszustand, weil es nach dem Ende der Kämpfe nie einen gültigen Friedensvertrag gab – und so spielte Nordkorea dann auch im leeren Kim-il-Sung-Stadion. Südkoreas Kapitän Heung-min Son sagte später: “Die Gegner waren sehr grob, und es gab Momente, in denen sehr beleidigende Worte ausgetauscht wurden.” Das Spiel endete 0:0. Son nannte es “eine Errungenschaft”, dass sich keiner verletzt hatte.

Wenig später begann die Pandemie. Das Gesundheitssystem in Nordkorea ist schlecht, die Angst vor dem Coronavirus war groß. Das Regime ließ praktisch niemanden mehr rein ins Land und niemanden raus. Auch keine Spitzensportler. Dreieinhalb Jahre war es im Weltsport so, als sei Nordkorea verschwunden. Es gab keine leibhaftigen Eindrücke mehr vom nordkoreanischen Kampfgeist.

Qualifikation zur Fußball-WM: Ein Block in Tokio war gekleidet ins kräftige Rot nordkoreanischer Fans.

Ein Block in Tokio war gekleidet ins kräftige Rot nordkoreanischer Fans.

(Foto: Issei Kato/Reuters)

Für Nordkorea schien die Pandemie länger zu dauern als für den Rest der Welt. Aber mittlerweile traut sich das Regime wieder nach draußen. Kim Jong-un mag Sport, und gerade die Fußball-WM 2026 in den USA, Kanada und Mexiko bietet ihm die Aussicht, den Kampfgeist seiner Leute wieder mal im Live-Fernsehen der freiheitlichen Welt zu sehen. Sie findet zum ersten Mal mit 48 Teams statt – die Chance, sich zu qualifizieren, ist besser denn je.

Und nun ist Nordkorea also wieder dabei in den großen Stadien der Welt. Natürlich nur in der Version, die das Kim-Regime auch selbst sehen will. Elf staatstreue Fußballathleten stellten sich am Donnerstagabend bei kühlem Frühlingswetter im Nationalstadion von Tokio auf, viele so unbekannt, dass nicht einmal das sonst sehr zuverlässige Datensystem des Fachportals kicker.de sie kannte. Konzentriert sangen sie die Nationalhymne. Vaterlandsstolz lag in ihren Augen. Sie wirkten verschworen, wie sich das für ein nordkoreanisches Kollektiv gehört. Und sie waren nicht allein. Das weite Rund des Nationalstadions war zwar voll vom Samurai-Blau der japanischen Trikots. Aber ein Block war ganz ins kräftige Rot der nordkoreanischen Mannschaft gekleidet. Nordkorea hat einige Fans in Tokio.

Ist die Leidenschaft ein Merkmal des Diktaturen-Fußballs?

Es gibt eine große nordkoreanische Gemeinde in Japan, sie umfasst etwa 25 000 Menschen. Die sogenannten Chosen-seki sind Nachkommen von koreanischen Familien, die während der Kolonialzeit von 1910 bis 1945 nach Japan kamen. Sie sind in Japan geboren und aufgewachsen, aber wollen weder die japanische noch die südkoreanische Staatsbürgerschaft. Die Organisation Chongryon kümmert sich um sie und betreibt auch Schulen. Dort werden Chosen-seki mitten im japanischen Kapitalismus zu unkritischen Anhängern des Regimes in Pjöngjang erzogen. Die Hingabe im roten Block war beachtlich. Die Nordkorea-Fans sangen, trommelten, tanzten während des gesamten Spiels. Sie wirkten fast begeisterter als die singende Gemeinde der Japan-Fans in der anderen Kurve des Stadions.

Ist diese Leidenschaft ein Merkmal des Diktaturen-Fußballs? Entsteht sie, wenn ein System Menschen auf Unterwürfigkeit trimmt? Ist sie vielleicht sogar eine Überlebensstrategie in einem Regime, das im Grunde vor allem an sich selbst denkt? Schwer zu sagen. Der Einsatz stimmte jedenfalls bei den Nordkoreanern, Kondition und Teamgeist auch. Allerdings startete das Team auch einträchtig verschlafen ins Spiel. Gleich bei der ersten japanischen Offensivwelle bekam es den Ball nicht weg. Ao Tanaka von Fortuna Düsseldorf erzielte die frühe Führung mit einem gezielten Nachschuss.

Japans 1:0-Sieg war zu niedrig. Glück und der gute Torwart Kang Ju-hyok vom nordkoreanischen Erstligisten Hwaebul Sports Club bewahrten Nordkorea vor Schlimmerem. Japan ist auch für das Rückspiel am Dienstag Favorit, zumal dieses wider Erwarten nicht in Pjöngjang stattfindet, wie der Japanische Fußball-Verband am Donnerstag mitteilte. Staatsmedien in Nordkorea berichten von einer “bösartigen Infektionskrankheit”, wohl deshalb will Pjöngjang das Spiel nicht veranstalten.

Trotzdem gab es für die Nordkoreaner auch einen Grund, zufrieden zu sein mit ihrem Auftritt in der freien Welt: diese kurze Phase in der zweiten Halbzeit nämlich, in der sie zeigten, dass man ihre Kraft nicht unterschätzen darf.



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