London. Als Leo Varadkar die Nachricht verkündete, schien er von ihr fast ebenso überrascht zu sein wie seine Parteifreunde. Man müsse „wissen, wann die Zeit gekommen ist, den Staffelstab an jemand anderen weiterzugeben, und dann den Mut haben, dies zu tun“, sagte der irische Regierungschef in einer emotionalen Erklärung am Mittwoch. Und: „Diese Zeit ist jetzt gekommen.“ Der 45-Jährige erklärte seinen Rücktritt als Vorsitzender der liberal-bürgerlichen Partei Fine Gael. Sein Amt als Taoiseach, wie der Regierungschef in Irland offiziell heißt, werde er niederlegen, sobald ein Nachfolger gefunden sei.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Kommentatoren sprachen von einer „erschütternden“ Nachricht, mit der viele Parteikollegen nicht gerechnet hätten. Der scheidende Taoiseach Leo Varadkar nannte sowohl persönliche als auch politische Gründe für seinen Rücktritt. Beobachter sahen darin eine versteckte Anspielung auf die vernichtende Niederlage bei zwei Referenden über die Rolle der Familie Mitte März. Bei der Volksabstimmung hatte eine Mehrheit der Irinnen und Iren eine Verfassungsänderung abgelehnt, mit der Formulierungen zur Rolle der Frau im Haushalt und in der Familie reformiert werden sollten. Beobachtern zufolge war dies ein Ausdruck des Misstrauens der Iren in die Regierung.

Mit der unerwarteten Entscheidung des 45-Jährigen ist nun der Startschuss für die Suche nach einem neuen Ministerpräsidenten gefallen. Als aussichtsreichste Kandidaten gelten derzeit Bildungsminister Simon Harris und Handelsminister Simon Coveney. Nach einem Wettbewerb um die Parteiführung soll nach der Rückkehr des irischen Parlaments nach Ostern ein neuer Taoiseach ernannt werden. Varadkar wird voraussichtlich weiterhin als Abgeordneter für den Wahlkreis Dublin West im Parlament vertreten sein.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Rücktritt kurz vor der Wahl überrascht

Der irische Politologe Gary Murphy bezeichnete Varadkars Entscheidung als „beispiellos“. Noch nie in der Geschichte des Landes sei ein Regierungschef so kurz vor einer Wahl zurückgetreten. Für Fine Gael bedeute dies eine „politisch schwierige Situation“, weil nach der Ernennung eines neuen Premiers nur noch wenig Zeit bliebe. Die nächsten Wahlen müssen regulär spätestens im März nächsten Jahres stattfinden.

Der stellvertretende Premier Micheál Martin von der liberal-konservativen Partei Fianna Fail zollte Varadkar Respekt und zeigte sich „sehr überrascht“ über dessen Rücktritt. Eine Forderung nach Neuwahlen lehnte er jedoch ab: „Wir werden unser Mandat erfüllen“, sagte er am Mittwoch. Die Vorsitzende der irisch-republikanischen Oppositionspartei Sinn Fein, Mary Lou McDonald, insistierte: „Die Entscheidung sollte nun in die Hände des Volkes gelegt werden.“ Sinn Fein liegt in den Umfragen mit 28 Prozent rund 10 Prozentpunkte vor Fine Gael.

Varadkar outete sich 2015 als homosexuell

Varadkars Amtszeit an der Spitze des Landes dauerte von 2017 bis 2020, bevor er 2022 erneut Taoiseach wurde. Im Jahr 2017 wurde er im Alter von nur 38 Jahren zum Regierungschef des Landes. In dem katholisch geprägten Staat galt er als erfrischende Politiker-Persönlichkeit, als Mann der offenen Worte. Das lag an seiner Herkunft, aber auch an seiner sexuellen Orientierung: Er hatte sich 2015 kurz vor dem erfolgreichen Verfassungsreferendum über die gleichgeschlechtliche Ehe in Irland als homosexuell geoutet.

Europa-Radar

Was in Brüssel passiert und Europa bewegt: Unser RND-Korrespondent liefert EU-Insights und Hintergründe – immer donnerstags.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Fine Gael regierte seit 2020 in einer Drei-Parteien-Koalition mit der liberal-konservativen Fianna Fail und den Grünen. Varadkar löste den Vorsitzenden von Fianna Fail, Micheál Martin, im Jahr 2022 als Regierungschef nach der Hälfte der Legislaturperiode ab. Ziel der beiden Volksparteien war es, mit dieser Regelung eine Regierungsbeteiligung der Partei Sinn Fein, die früher als politischer Arm der Terrorgruppe IRA galt, zu verhindern.

Varadkar galt lange Zeit als Hoffnungsträger, konnte er die in ihn gesetzten Erwartungen Beobachtern zufolge nicht erfüllen. In Irland herrscht eine massive Wohnungsnot. Viele Menschen können sich die Mieten in der Hauptstadt Dublin, aber auch im Rest des Landes kaum mehr leisten. Das Problem ist seit Langem bekannt, geändert hat sich wenig. Vor diesem Hintergrund ist auch die zunehmende Zuwanderung zu einem immer wichtigeren und spaltenden Thema für die irische Wählerschaft geworden.



Source link www.kn-online.de