Nehmen wir beispielsweise Woche 4. Da schreibt Ende März 2022 auf einer linken Buchseite die Ukrainerin K. in Kopenhagen, wohin die Flucht aus Kiew sie mit ihren beiden kleinen Kindern geführt hat: “Ich kann nicht hier herumsitzen, während mein Land in Flammen steht und mein Mann dort ist und nicht rauskann”, sie fährt also heim, um fortan zu pendeln. Dazu eine Zeichnung, minimalistisch, flächig, kaum Farbe, Kinder füttern Vögel im Garten mit Brot. Auf der rechten Seite, gegenüber, berichtet gleichzeitig der Russe D. aus St. Petersburg, er halte es nicht aus, er plane die Flucht nach Riga: “Ich gehe fort, organisiere alles und hole dann meine Familie nach.” Aber nur er hat einen Pass: “Was, wenn meine Familie nicht nachkommen kann?” Dazu in wenigen Strichen die Zeichnung des Familienhundes, der einen Stock apportiert, darüber schwebt eine Winterluft-Atemwolke.

Nora Krugs Zeichnungen sind minimalistisch, flächig, haben kaum Farbe. © Nora Krug/​Penguin Verlag

Zwei Menschen, zwei Herkünfte, zwei Stimmen, buchstäblich zwei Seiten: So will es die symmetrische Bauart von Nora Krugs Buch Im Krieg, denn dieses Kunstwerk ist nicht performativ hingetuscht, und es macht auch nicht Gefühlsradau durch erschütterungsheischenden Kriegsexistenzialismus. Sondern es ist präzise durchdacht und gebaut: In der disziplinierten Unabgelenktheit und dem Ebenmaß der parallel gestalteten Seiten, die im Laufe eines Jahres entstanden, tritt einem ein Ausdruck von tiefem Respekt, von einer Scheu vor der Erfahrung des Entsetzlichen entgegen.

Die Illustratorin Nora Krug, Enkelin eines deutschen Mitläufers in der Nazizeit, wie sie sagt, vielfach preisgekrönt, hat sich gleich nach dem russischen Überfall am 24. Februar 2022 an zwei Menschen gewandt, die sie nur flüchtig kannte: eine Journalistin aus Kiew, einen Künstler aus St. Petersburg, und sie hat die beiden gefragt, ob sie fortan deren Alltag im Krieg mitschreiben dürfe, damit ein von ihr illustriertes wöchentliches Tagebuch daraus würde, das die Berichte einander gegenüberstellt.

Auf der russischen Seite: Der Familienhund apportiert einen Stock, sein Besitzer denkt darüber nach, das Land zu verlassen. © Nora Krug/​Penguin Verlag

Von New York aus hat Nora Krug über Kurznachrichten zwölf Monate lang mit den beiden gesprochen und einen Text daraus geformt, der die Anonymität der Gegenüber zu deren Sicherheit wahrt und den sie schließlich illustriert hat. Es ist ein einzigartiges Dokument dieses Krieges daraus geworden, der erstmals aufgrund der digitalen Spielräume ein Krieg zum öffentlichen Mitschreiben und Mitlesen beider Seite ist.

Zwei Seiten, das klingt eindeutig, doch es ist so uneindeutig, wie es jede Wirklichkeit ist: Der Russe D. hat deutsche und jüdisch-russische Vorfahren, und als seine Heimat empfindet er nur seine Stadt, in die er erst als 20-Jähriger kam. Die Ukrainerin K. wiederum hat inuitische, jüdische, kosakische Vorfahren, stammt aus der Wolgaregion und setzt heute als Journalistin für die freie Ukraine ihr Leben ein, indem sie von der Front berichtet. Er ist wie gelähmt in Angst und Entfremdung von seinem Land, in dem er nicht sagen kann, was er denkt, und in dem er nicht länger leben will. Sie ist in Angst um ihre Nächsten und vor den Bomben, aber schreiben oder sagen kann sie, was sie will, angstlos, und wo sie leben will, weiß sie genau: zu Hause, in der Ukraine.

Der Alltag, den Nora Krug illustriert, ist der einer Journalistin aus Kiew und eines Künstlers aus St. Petersburg. © Nora Krug/​Penguin Verlag

Die Wochen vergehen, der Krieg nistet sich in allen Poren des Lebens ein, und eines ändert sich: Die Seiten des Buches umfassen immer mehr Text, die Gegenüber öffnen sich immer mehr für die Autorin. Es gibt so viel mitzuteilen. Und die Ukrainerin sagt: Das Schlimmste sei nicht der Krieg, sondern sich tot zu fühlen.

Nora Krug: Im Krieg. A. d. Engl. v. Nora Krug u. Alexander Weber; Penguin, München 2024; 128 S., 28,– €, als E-Book 19,99 €



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