Brüssel. Als Großbritannien 2016 für den Brexit stimmte, war das ein Schock für viele Politikerinnen und Politiker in der Europäischen Union. Die Sorge unter EU-Diplomaten war groß, dass andere Staaten dem Beispiel folgen werden, wenn erst einmal die „Büchse der Pandora“, wie sie es beschreiben, geöffnet wurde. Doch wenige Jahre später hat Russlands Angriffskrieg die EU-Staaten mehr denn je zusammengeschweißt und für eine ungeahnte Beitrittsdynamik gesorgt. Die Ukraine und Moldau wollen Teil der EU werden, ebenso Bosnien-Herzegowina und weitere Westbalkanstaaten. Georgien und Kosovo wollen ebenfalls beitreten, selbst das eigentlich Russland zugewandte Armenien erwägt nun den EU-Beitritt.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Die EU-Staaten machten am Dienstag in Brüssel allerdings deutlich, dass sie – Russlands Angriffskrieg hin oder her – keine Rabatte bei den Anforderungen an die Mitgliedschaft gewähren. „Wir dürfen die Hürden nicht senken, sondern müssen den Ländern dabei helfen, die Hürde zu meistern“, sagte der dänische Außenminister Lars Lökke Rasmussen bei einer Anhörung im EU-Parlament. Die Kopenhagener Kriterien, die unter anderem Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte einfordern, müssten auch die Ukraine und Moldau erfüllen. Beide seien aus seiner Sicht bereit für den nächsten Schritt, den Beginn der Beitrittsgespräche.

Für viele Staaten, darunter die Ukraine, Moldau und Bosnien-Herzegowina, geht es längst nicht mehr darum, ob sie beitreten, sondern wann. Die EU-Staaten loben die schnellen Reformen der Ukraine, die trotz des Krieges beispielsweise zahlreiche Maßnahmen gegen Korruption vorantreibt. „Reformen sind schon in Friedenszeiten schwierig, wie ist es also erst während des Krieges? Wir müssen verstehen, in welcher schwierigen Situation sich die ukrainische Regierung während des Beitrittsprozesses befindet“, sagte der lettische Außenminister Krišjānis Kariņš. Er dringt darauf, dass auch die EU ihren Teil leistet. „Wenn die Reformen umgesetzt werden, müssen unsere Türen weit offen sein.“

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

EU völlig unvorbereitet auf weitere Beitritte

Derzeit ist die EU allerdings völlig unvorbereitet auf weitere Beitritte. Die Subventionen für die Landwirtschaft, die etwa 30 Prozent des EU-Budgets ausmachen, würden bei einem Beitritt der Ukraine wohl zum Großteil dorthin fließen. Ohne eine Änderung, würden große Profiteure der EU-Finanzmittel, darunter zum Beispiel Polen, einem Beitritt wohl nicht zustimmen. Zudem müssen im Europäischen Rat wichtige Entscheidungen der EU-Staaten einstimmig getroffen werden, was schon jetzt schwierig ist. Eine Reform gilt daher als überfällig. Das betrifft auch die Verteilung der Kommissare in der EU-Kommission. Derzeit stellt jeder EU-Staat einen Kommissar, sodass die Zahl bei einer Erweiterung weiter steigt und die Arbeit schwieriger macht. Die EU muss sich daher auch selbst reformieren, um für die Aufnahme neuer Mitglieder bereit zu sein.

Europa-Radar

Was in Brüssel passiert und Europa bewegt: Unser RND-Korrespondent liefert EU-Insights und Hintergründe – immer donnerstags.

Wie lange die Reformen der EU und der Beitrittskandidaten dauern werden, ist offen. EU-Ratsvorsitzender Charles Michel hatte 2030 avisiert, die Ukraine hofft auf einen früheren Beitritt. Am Dienstag bezeichnete Lettlands Außenminister Kariņš 2030 als „gute Zielmarke“, der Beitrittsprozess sei aber dynamisch. „Wenn sich die Staaten schneller bewegen, kann das Datum nach vorne verschoben werden.“

EU-Parlament dringt auf Tempo: „Der Wartesaal vor der Tür der EU ist überfüllt“

Trotz der umfangreichen Reformen der Ukraine gibt es innerhalb der EU weiterhin Vorbehalte, vor allem aus Ungarn. Litauen warnte vor ungarischen Vetos und verweist auf den Schutz der ungarischen Minderheit in der Ukraine. „Wenn die Ukraine besiegt wird, bedeutet das nicht nur das Ende der ukrainischen Sprache, sondern auch der ungarischen Sprache in der Ukraine“, so der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis. Der ungarische Staatssekretär Peter Sztaray wies jede Kritik zurück. „Es gibt keine Erpressung“, sagte er zu den Vetos aus Ungarn. „Aber die Ukraine muss auch liefern.“ Den EU-Beitritt müsse man sich verdienen. Ungarn hat ab Sommer die Ratspräsidentschaft inne und will das Thema Erweiterung auf die Tagesordnung setzen. Sztaray zufolge könnte die Auszahlung von Geldern im Rahmen eines Wachstumsplans des Westbalkans bereits in der zweiten Jahreshälfte erfolgen. Noch in diesem Jahr wolle man weitere Kapitel mit Serbien, Albanien und Nordmazedonien eröffnen und mit Bosnien-Herzegowina und Moldau Beitrittsverhandlungen aufnehmen. Auch die Gespräche mit Montenegro sollen intensiviert werden. Georgien soll den Kandidatenstatus erhalten.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

„Es sind zu viele Länder im Beitrittsprozess steckengeblieben.“

Tonino Picula, Abgeordneter der Sozialdemokraten

Das EU-Parlament dringt auf Tempo. „Der Wartesaal vor der Tür der EU ist überfüllt“, sagte Tonino Picula von den Sozialdemokraten. „Es sind zu viele Länder im Beitrittsprozess steckengeblieben.“ Er spricht sich für eine größere Unterstützung der Beitrittskandidaten aus.

Der letzte EU-Beitritt eines Staates liegt bereits mehr als zehn Jahre zurück. 2013 war Kroatien der Europäischen Union beigetreten. Am längsten wartet bereits die Türkei auf einen EU-Beitritt. Der Beitrittsprozess gilt allerdings als festgefahren und wenig aussichtsreich, da die Türkei die nötigen Reformen nicht oder nur unzureichend umsetzt.



Source link www.ln-online.de