Leonie Schöler, laut ihrem Buch werden seit Jahrhunderten Frauen von Männern beklaut. Wer hat denn wem was gestohlen?

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Männer bringen Frauen seit Jahrhunderten systematisch um ihre Leistungen, um Anerkennung für ihre Arbeit und ihre Lebenszeit. Die Männer profitieren von ihnen, entweder direkt oder aus gesellschaftlicher Perspektive. Ich habe diese Biografien aufgeschrieben. Einerseits, um ihnen etwas zurückzugeben, und andererseits, weil vieles heute noch vergleichbar ist.

Manche der Frauen wurden sogar um einen Nobelpreis gebracht.

Das sind die bekannteren Geschichten wie die von Rosalind Franklin und Lise Meitner. Während bei Lise Meitner die Arbeit eine Teamleistung war, an deren Ende jedoch nur die Männer belohnt wurden, wurde Rosalind Franklin regelrecht beklaut. James Watson, der neben Maurice Wilkins und Francis Crick die Lorbeeren für ihre Arbeit mit dem Nobelpreis 1962 einsackte, kokettierte in seiner Biografie damit und versuchte es als Kavaliersdelikt zu verkaufen. Er sagte sogar 2018 noch über sie: „Ich würde sie als Loser bezeichnen“ und „Sie hat es verkackt“.

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Mileva Maric und Albert Einstein mit ihrem ältesten Sohn.

Mileva Maric und Albert Einstein mit ihrem ältesten Sohn.

Anders als viele andere. Vor allem für Deutschland wichtige Männer wie Einstein, Marx, Gropius und Brecht scheinen nach der Lektüre Ihres Buches entzaubert. Gönnen Sie den Männern den Erfolg nicht?

Es geht nicht darum, diese Persönlichkeiten, die unstrittig Besonderes geleistet haben, zu verteufeln und von ihrem Podest zu schubsen. Wir sollten uns aber fragen: Wer hat ihnen diese Leistung und diesen Ruhm überhaupt ermöglicht? Das waren ganz klar: die Frauen. Während Albert Einstein ganze Vorlesungen und wissenschaftliche Aufsätze zumindest teilweise von seiner Frau Mileva Marić hat schreiben lassen – die er in seiner Biografie dann als hässlich und dumm beschrieb –, beklaute Walter Gropius Lucia Moholy und kuratierte 1938 im New Yorker Museum of Modern Art eine Ausstellung mit ihren Fotografien. Ohne, dass jemand ihren Namen kannte oder sie auch nur einen Cent dafür sah – obwohl sie die meistpublizierte Fotografin des Bauhauses war.

Und auch die bekanntesten Werke von Bertolt Brecht sind keine Einzelleistungen, sondern wurden mit Autorinnen auf Augenhöhe und im Team produziert. Natürlich sollen wir weiter über diese Personen sprechen, aber eben auch über die Frauen, die diese Genialität erst ermöglicht haben. Oder selbst Genies waren, aber nie anerkannt wurden.

Leonie Schöler hat 2024 ihr erstes Sachbuch veröffentlicht: „Beklaute Frauen“ gibt es seit Februar im Handel.

Leonie Schöler hat 2024 ihr erstes Sachbuch veröffentlicht: „Beklaute Frauen“ gibt es seit Februar im Handel.

Zur Person: Das ist Leonie Schöler

Leonie Schöler, geboren 1993, arbeitet als Historikerin, Autorin und Journalistin. Im Februar 2024 brachte sie ihr erstes Buch “Beklaute Frauen” heraus. Ihre Recherchen liefen bei verschiedenen Funk-Formaten sowie beim ZDF. Auf Tiktok und Instagram klärt sie als @heeyleonie ihre 230.000 Follower regelmäßig über Geschichte und aktuelle politische Zusammenhänge auf.

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Müssen wir also Teile der Geschichte umschreiben, oder was wollen Sie mit dem Buch erreichen?

Nein. Aber wir müssen die vielen Facetten der Geschichte betrachten. Dann können wir verstehen, wieso es jetzt so ist, wie es ist. Mir ging es nicht darum, 20 tolle Frauengeschichten aufzuschreiben, sondern zu erklären, was sie mit uns heute zu tun haben. Und das bedeutet, diese vermeintlichen Einzelfälle aufs Ganze zu beziehen. Es ist kein Zufall, dass wir etliche historische Wissenschaftler, Künstler, Politiker, Revolutionäre benennen können, doch selten auch nur eine Frau. Dabei wurde die Französische Revolution maßgeblich von Frauen angeleitet. Eine Revolution mit nur der Hälfte der Bevölkerung funktioniert auch gar nicht. Ihre Errungenschaften wie Kindergarten, Frauenvereine und -zeitschriften gaben den Frauen einen öffentlichen Raum, der ihre Forderungen nach Teilhabe laut werden ließ. All diese Dinge wurden deshalb wieder verboten. Die damals erstrittenen „Menschenrechte“ galten eben nur für Männer.

Die Geschichte und ihre Auswirkungen lassen sich nicht mit ein paar Gesetzen aushebeln.

Leonie Schöler,

Historikerin

Wir kennen also offenbar nur einen Teil gewisser Biografien. Was hat das heute mit unserem Alltag zu tun?

Frauen werden heute noch ähnliche Rollen wie damals zugeschrieben. Sie wurden lange als das Mündel ihres Mannes angesehen, waren vor dem Gesetz keine vollberechtigten Bürgerinnen. Ihr Raum war der Haushalt, ihre „naturgegebene“ Rolle die der Mutter. Marie Curie war nur deswegen erfolgreich und ist heute anerkannt, weil ihr Mann es ihr zugestand und in die wissenschaftliche Sphäre hineinließ. Nun dürfen Frauen schon längst wählen und seit 1977 in Deutschland ohne die Erlaubnis ihres Mannes arbeiten. Doch Pflege- und Careberufe sind schlecht bezahlt, und Frauen gehen viel öfter in Teilzeit als Männer. Die Geschichte und ihre Auswirkungen lassen sich nicht mit ein paar Gesetzen aushebeln.

Bis heute anerkannt: Die Physikerin und Chemikerin Marie Curie.

Bis heute anerkannt: Die Physikerin und Chemikerin Marie Curie.

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Es ist doch viel mehr passiert als das Wahlrecht und die Freiheit zu arbeiten. Frauen sind in Deutschland Kanzlerin, Aufsichtsrätin, Wissenschaftlerin – die Liste ist lang. Wieso sehen Sie das noch so kritisch?

Dass viele Frauen es heutzutage weit schaffen, ist keine Frage. Dabei sind die Bedingungen wichtig: Weiße Akademikerkinder haben bessere Chancen als Arbeiterkinder. Doch selbst wenn Frauen heute Nobelpreisträgerinnen und Präsidentinnen sind – der Weg dahin ist ungleich schwerer. Frauen machen zwar den größeren Teil der Abiturienten und Studierenden aus, die Karrieren entwickeln sich über die Jahre hinweg vergleichbar zu der von Männern. Doch dann haben wir ab Mitte 30 einen Knick: Plötzlich stagnieren die Karrieren der Frauen, während die der Männer sich gleichbleibend positiv entwickelt.

Heiraten und Kinder kriegen bedeutet für uns Frauen immer etwas anderes als für den Mann.

Leonie Schöler,

Historikerin

Erklären kann man diesen Bruch bei Frauen mit dem Zeitpunkt der Familiengründung. Dabei bekommen sie ihre Kinder ja nicht alleine. Doch heiraten und Kinder kriegen bedeutet für uns Frauen immer etwas anderes als für den Mann. Wir werden eher mit der Doppelbelastung umgehen müssen, werden anderen Erwartungshaltungen in Bezug auf Mutterschaft und Beruf begegnen, werden uns mehr beweisen müssen. Männer in Führungspositionen haben häufig Kinder – Frauen verzichten eher. Studien zeigen, dass Männer nach einem Vaterschaftsurlaub sogar bessere Jobchancen haben. Davon können Frauen nur träumen – Gleichberechtigung sieht anders aus.

Das zweite Kapitel ist mit „Endstation Ehe“ überschrieben. Warum lohnt es sich für Frauen nicht, zu heiraten?

Die Ehe war historisch immer eine Art Tauschhandel: Die Frau geht vom Besitz ihres Vaters und der Familie in den des Ehemanns über – der Vater übergibt seine Tochter dem neuen Gatten am Altar. Heute wird diese Geste wieder als romantisch zelebriert. Doch faktisch waren Frauen bis ins 20. Jahrhundert hinein nicht als eigenständige Erwachsene angesehen. So war die Frau für den Haushalt zuständig und der Mann fürs Geldverdienen. Deswegen zögerte Einsteins erste Frau Mileva Marić auch so lange, ihn zu heiraten. Sie hatte Angst um ihre Karriere. Wie wir jetzt wissen: zu Recht. Dabei waren und sind Haushalt und Familie ebenso Arbeit, nur wurden sie nicht entsprechend honoriert.

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Sie kritisieren die Ehe, auch in ihrer heutigen Form. Warum?

Wir sollten uns von dem Konstrukt Ehe, so wie sie heute ist, befreien. Auf dem Papier sind die Eheleute zwar gleichberechtigt. Aber die Praxis führt dazu, wieder in diese klassischen Rollen zu fallen. Europaweit arbeiten vor allem Frauen mit Kindern in Teilzeit, während Männer mit Kindern nur wenig so arbeiten, weil ihre Frau in Teilzeit die Familie übernimmt. Das Ehegattensplitting führt weiter dazu, diese Rollen zu zementieren, weil es sich für die geringer verdienende Person – zumeist die Frau – nun mal nicht lohnt, noch zu arbeiten. Und so setzen sich überwunden geglaubte historische Bedingungen weiter fest.

Vor allem heutzutage versuchen junge Paare, genau dieser Falle zu entgehen. Wieso fällt es ihnen so schwer?

Die Dinge sind nicht in Stein gemeißelt, und viele sich als emanzipatorisch verstehende Paare wollen anders leben. Doch genau diese strukturellen Bedingungen hindern sie. Dann ist es jeden Tag eine gemeinsame Aufgabe, gegen die gesellschaftlichen Erwartungen anzukämpfen – und das zu einem Zeitpunkt, wenn einem als frische Eltern sowieso schon die Kräfte fehlen.

Was könnte ihnen helfen?

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Teilzeit bei Männern und Vaterschaftsurlaub sollten normal sein und nicht die Ausnahme. Die Kinderbetreuung müsste ausgebaut werden, doch wir rutschen in eine Kita-Krise. Auch eine Vier-Tage-Woche könnte helfen, die Doppelbelastung von Familie und Beruf – die Männer ja genauso haben – leichter vereinbaren zu können. All diese Dinge können dazu beitragen, dass die Ehe vielleicht zu so einem Bündnis wird, wie es sich die Menschen wünschen, wo zwei oder auch mehr Menschen sich lieben und füreinander sorgen.

Wo befinden wir uns historisch betrachtet im Kampf für Gleichberechtigung?

Auch wenn immer mehr Geschichten von Frauen in den Fokus rücken und mehr Perspektiven zu vermeintlich Bekanntem hinzukommen, ist das Ende noch lange nicht erreicht. Zum Beispiel wurde erst kürzlich die allgemeine Theorie der männlichen Jäger und weiblichen Sammlerinnen aus der Steinzeit widerlegt. Dreißig bis fünfzig Prozent der Grabstätten von vermeintlich männlichen Jägern waren Frauen. Aber andersherum passte es besser in unser Rollenverständnis.

Wir brauchen den Feminismus heute noch genauso wie vor fünfzig Jahren. Die Gewalt gegen Frauen ist hoch, in Österreich gab es erst kürzlich sechs Femizide an nur zwei Tagen. Wir sehen das auch beim Thema Abtreibung: Während in Frankreich das Recht auf Abtreibung nun verfassungsrechtlich verankert ist, haben die USA es letztes Jahr gekippt. Es gibt keine Verschnaufpause, das erlebe ich gerade wieder.

Was ist passiert?

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Mein Buch ist seit einer guten Woche veröffentlicht. Ich habe jahrelang recherchiert, Vorträge gehalten, spreche im Fernsehen darüber. Aber ich konnte mich in der vergangenen Woche mit kaum einem Mann darüber unterhalten, ohne dass dieser mir Ratschläge erteilte und ich mir sein Wissen anhören musste. Oder er wollte mich argumentativ herausfordern und stempelte die Geschichten als individuelle Probleme ab. Meine Expertise konnten sie nicht unkommentiert stehen lassen. Und das Schlimmste: Keiner von denen sieht sich als Teil des Problems. Das hat mich richtig wütend gemacht und hätte ich so nicht erwartet.



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