Wessely vermittelt von Anfang an, dass die Frau nicht schon allein durch die Geburt zur Mutter wird, sondern vielmehr erst durch den tätigen Prozess der Identifikation mit dem Kind, der danach beginnt.

Wessely vermittelt von Anfang an, dass die Frau nicht schon allein durch die Geburt zur Mutter wird, sondern vielmehr erst durch den tätigen Prozess der Identifikation mit dem Kind, der danach beginnt.

Foto: Unsplash/Kevin Keith

Seit Mutterschaft in den allermeisten westlichen Ländern kein Schicksal mehr ist, wird sie gern zum Projekt erklärt. Ob sie dabei, wie bei der Publizistin Sarah Diehl, die in ihrem Buch »Die Freiheit, allein zu sein« das vermeintlich stigmatisierte Dasein von Single-Frauen verteidigt, als Bedrohung individueller Autonomie erscheint, oder im Gegenteil wie in neubiedermeierlichen Lebenshilferatgebern als glückliche Selbstverwirklichung figuriert, ist zweitrangig. Hier wie dort gilt Mutterschaft als ein Lebensentwurf, der die Mutter (oder auch die Eltern) und erst in zweiter Hinsicht das Kind betrifft. Der Prosaessay »Liebesmühe«, den die Historikerin und Kulturwissenschaftlerin Christina Wessely über ihre Mutterschaft geschrieben hat, unterscheidet sich von den meisten autobiografischen, selbsttherapeutischen oder sozialkritisch drapierten Büchern über Glück und Nachteil der Mutterschaft dadurch, dass er die Zumutung, diese als Projekt zu verstehen, zurückweist. Obwohl Gegenstand des Buches die sogenannte Wochenbettdepression ist, handelt es sich um keine Klageschrift darüber, wie schwer es Mütter haben. Vielmehr erzählt das Buch mit zarter Klarsicht, sprachlicher Präzision und berührender Ausdruckskraft davon, dass jegliche Geburt eine doppelte ist: die Geburt des Wesens, das geboren wird, und die Geburt derjenigen, die es zur Welt bringt.

Dass die Frau, die ein Kind bekommt, nicht allein schon durch dessen Geburt, sondern vielmehr erst durch den tätigen, schmerzlichen und immer widersprüchlichen Prozess spontaner Identifikation mit dem Kind, der die Fähigkeit zur differenzierten Abgrenzung voraussetzt, zur Mutter wird, dass also Mutterwerdung ein gesellschaftlicher und zugleich individueller, unwiederholbar intimer Vorgang ist, wird bei Wessely von Beginn an deutlich. Indem sie von einer subjektiven Erfahrung in der dritten Person Singular erzählt, verdoppelt sie die Distanz zwischen der Mutter und dem Kind – den Riss, den das Buch beschreibt – in der Distanz zwischen dem Ich, das erzählt, und der Anderen, zu der es in der Erzählung wird: »Ganz still sitzt sie da, um ihn nicht zu wecken. Die Beine dürfen nicht übereinandergeschlagen werden, schon der Versuch, sich ein Kissen unter den Ellenbogen, unter den schon schmerzenden Arm zu schieben, könnte seinen Schlaf stören. Sollte er aufwachen, müsste sie die letzte halbe Stunde wiederholen, das Wiegen, das Singen, das sanfte Schaukeln, immer in der Hoffnung, sich dann an der richtigen Stelle niederzulassen, um ihm und ihr selbst ein wenig Ruhe zu verschaffen.«

Das Buch schildert zuerst die Mühen und den Verzicht, die der Preis jener somatischen Kommunikation zwischen Mutter und Kind sind, welche von Mutterschaftsgegnern als Beweis für das Repressive der Mutterrolle und von Romantikern als Index einer natürlichen Verbundenheit missdeutet wird. Dabei gibt es jedoch in den Formulierungen, mit denen Wessely berührend und in manchmal kaum erträglicher Intensität die frustrierende Fremdheit der Mutter gegenüber ihrem Kind beschreibt, keine einzige, in der das Kind zum Eindringling und die Mutterschaft zum Fluch erniedrigt wird. Die Mühe ist, wie der Titel festhält, immer eine der Liebe, umgekehrt gibt es ohne Mühe keine Liebe. Zwischen diesen beiden Tatsachen ist keine harmonische Vermittlung möglich, sie zeigen sich immer in der Dissonanz, mit der Überforderung und Empathie ineinanderklingen: »Oft ist sie zitternd froh, wenn um achtzehn Uhr das Schreien noch nicht angefangen hat. Denn es wird erst aufhören gegen elf, nachdem der Vater des Kindes und sie es im Wechsel herumgetragen haben, oft viele Stunden lang, bevor es bis zum ersten nächtlichen Stillen in einen tiefen kurzen Schlaf fällt.« Indem das Kind sich absichtslos, und ohne etwas dafür zu können, zum Alleinherrscher des eigenen Lebens macht, wird es unheimlich wie eine mythische Gestalt, die das scheinrationale Alltagsleben fadenscheinig macht. Darum greift Wessely immer wieder auf Analogien zum Märchen zurück, das gattungsgeschichtlich auf die einem Bann ähnelnde Verbundenheit zwischen Mutter und Kind verweist: »Wie die Nixe im Märchen zieht sie sich zurück in ein dunkles Loch. Sie hat Angst vor dem Kind, schreckliche, tiefe Angst. Immer deutlicher kristallisiert sich dieses Gefühl als alles dominierende Haltung heraus. Sie ist äußerst unglücklich. Häufig sperrt sie sich im Badezimmer ein, setzt sich auf den Boden und weint. Und wenn der Vater des Kindes an die Tür klopft und sie ihm irgendwann aufmacht, schreit sie unter Tränen: Ich kann nicht mehr, ich will das alles nicht«.

Für das Thema der Wochenbettdepression interessiert sich Wessely nicht aus beziehungs- oder rollenpsychologischen Gründen, sondern, weil sich darin ein düsterer Abglanz der Naturgeschichte zeigt, der in der Mutterwerdung durch alle gesellschaftlichen Vermittlungen hindurch aufscheint und zu ihrem Wesen gehört. Wenn die Mutter bei Überforderung durch das Gefühl der Alldominanz des Kindes selbst wieder zum Kind zu werden scheint, das sich im Bad einsperrt und vom Vater, der zugleich der Lebenspartner ist, zurückgerufen wird, handelt es sich nicht um eine bloße Regression, sondern um die Erinnerung daran, dass Erwachsene nie nur Erwachsene sind und schon im Baby etwas existiert, das über die Kindheit hinausweist. In diesem Sinne ist die Depression weder eine Schwäche noch ein Symptom der schlechten Einrichtung der Welt, sondern in ihr regt sich etwas, das anerkannt und mit Zartheit und Geduld ins Leben zurückgeführt werden muss. Auch wenn Wessely im Folgenden beschreibt, wie dies gelingen kann, wird sie nie kitschig-versöhnlich. Obwohl es besser wird, ist weder alles noch das Ende gut. Jedoch, was vorher übermächtig war, erscheint in anderem Licht und kann als Schritt auf dem Weg in eine unbekannte und vielleicht schöne Zukunft begriffen werden: »Ungeachtet aller Anstrengungen, aller Sorgen und Entbehrungen empfindet sie das Leben mit dem Kind, das sie erst kennenlernen musste, das zu lieben ein so langer und schmerzhafter Prozess für sie war, als ein Fest. Jeder Tag ist neu.«

Deshalb ist Wesselys Buch auch weder für das Ich noch für den Partner oder irgendeinen Adressatenkreis, sondern »nur für einen Leser geschrieben« worden: »Es ist kaum ein Jahr her, seit er erkannt hat, dass das Kind im Spiegel ER SELBST ist, und mit tapsigen Handbewegungen versucht hat, den kleinen roten Aufkleber, den sie auf seiner Stirn angebracht hatte, wegzuwischen.« So wiederholt sich am Ende noch einmal das Motiv der Fremdwerdung, die Aufspaltung des Subjekts in sich selbst und ein anderes, die die Voraussetzung glücklicher Selbsterkenntnis ist. Dass Wessely damit auch ein Dokument weiblicher Erfahrungsgeschichte geschrieben hat, ist so evident, dass sie es nicht betonen muss: Denn was hier beschrieben wird, kann nur eine Frau, wenngleich jede auf genuine Weise, erfahren. Männer können dabei – wie der Partner in Wesselys Buch – helfen, manchmal stören und hoffentlich Interesse und Empathie aufbringen. Aber sie werden es nie selbst erleben.

Christina Wessely: Liebesmühe. Hanser, 176 Seiten, geb., 22 €.

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