München/Frankfurt – Ist das wirklich Julian Nagelsmann, der da spricht? Dieser chronisch nassforsche Unbekümmertling, der sich seiner stets so sicher ist? Kann nicht sein. Der da im mausgrauen Wams auf dem Podium sitzt und über den Kader der DFB-Elf für die Testspiele gegen Frankreich und die Niederlande spricht, tut das in Büßermanier. Schaut beim Antworten minutenlang zur Pressesprecherin rüber, traut sich kaum den Kopf zu heben und in den Saal zu schauen. Als hätte er etwas ausgefressen und müsse nun coram publico Abbitte leisten.

Nagelsmann über DFB-Kader: “Ganz drehen wird es sich nicht, aber …”

Es ist ja auch einigermaßen unerhört, was der Bundestrainer entschieden hat und nun schwarz auf weiß neben dem Podium zu lesen ist: der Kader, der sich laut Nagelsmann bis zur EM noch ändern kann, aber eben nicht grundlegend: “Ganz drehen wird es sich nicht. Es ist aber auch nicht so, dass die Tür für einen, der jetzt nicht nominiert ist, zu ist. Das habe ich auch allen am Telefon gesagt.”

Sollte ein Offensivspieler “in den nächsten acht Wochen sehr viele Tore schießen oder sehr viel Impact in seinem Klub haben, dann kann da auch eine Position getauscht werden”. Allerdings: Für Abwehrspieler sei es “einen Tick schwieriger, sich reinzuspielen, aber auch da ist die Tür nicht komplett zu”.

Radikalkur beim letzten DFB-Kader vor EM-Nominierung

Der Kader ist eine Radikalkur, ein Bruch mit Gewohntem, was ja gut ist. Er ist in Mix aus Reife und Risiko, mit sechs Novizen (Waldemar Anton, Maximilian Beier, Jan-Niklas Beste, Maximilian Mittelstädt, Aleksandar Pavlovic, Deniz Undav) und sechs Rückkehrern, mit viel Erfahrung und sehr viel mehr Formstärke. Der Begriff “Momentum” fällt in der genau eine Halbzeit langen Pressekonferenz gefühlt alle zwei Minuten, dicht gefolgt vom Schlüsselwort “Leistungsprinzip”.

Bayern-Patron Uli Hoeneß bemühte oft die Sentenz ‘The trend is your friend’. Nagelsmann erklärt sich so: “Nach den letzten Spielen haben wir gesagt, dass wir definitiv Dinge ändern werden und müssen. Der Reiz des Neuen muss da sein. Der Reiz muss in den Augen funkeln. Bei der EM geht es nicht darum, die 20 Talentiertesten von den bekanntesten Klubs zu haben, sondern die 20, die am besten zusammenpassen.”


DFB-Kader ohne zahlreiche, gewohnte Stammgrößen

Herausgekommen ist ein Kader ohne einstige Stamm-Größen wie Leon Goretzka, Serge Gnabry, Mats Hummels oder Niklas Süle. Leroy Sané fehlt auch, allerdings wegen Sperre. Warum also ohne Hummels, den er erst zurückgeholt hatte? Nagelsmann: “Wir werden anders aufbauen als zuletzt. Im Aufbau haben wir einen Innenverteidiger weniger. Ich sehe Mats nicht als ideale Besetzung, was die Backup-Rolle angeht. Wenn wir ihn in der ersten Elf gesehen hätten, wäre das vielleicht etwas anders.” Und warum ohne Goretzka, zuletzt stark verbessert? “Das hat nichts mit Pavlovic zu tun. Natürlich war Leon gefrustet, traurig und enttäuscht.”

Entscheidungen zu treffen gehört nun mal zu seinem Job-Profil. Die Kapitänsfrage ebenfalls, auch wenn Nagelsmann diese Rolle nicht überbewerten mag: “Ilkay bleibt Kapitän. Er ist stolz, die Binde zu tragen. Wir sollten auf dem Feld alle Kapitäne sein. Manuel Neuers Wort wird weiter Gewicht haben. Auch andere Spieler sollen Anlaufstelle für die Kollegen sein.”

Neuer oder Ter Stegen? “Da nehme ich nichts vorweg”

Ach ja, Ex-Kapitän Neuer ist auch wieder da, zum Leidwesen von Marc-André ter Stegen. Wer bei der EM die Nummer eins ist, sei angeblich noch nicht entschieden, so der Coach: “Wir werden mit beiden Torhütern ein Gespräch führen. Da nehme ich nichts vorweg. “

Bis zum Schluss gegrübelt hat Nagelsmann ja nicht über diesem richtungsweisenden Kader, einiges war längst durchgesickert. Zu seiner eigenen Zukunft sagt er: “Es ist ratsam, sich um seine berufliche Zukunft zu kümmern. Gerade wenn man einen auslaufenden Vertrag hat. Das lenkt mich nicht vom Tagesgeschäft ab. Wenn ich ein passendes Angebot vorliegen habe, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ich vor der EM unterschreibe. Derzeit habe ich nichts vorliegen.”





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