Kiel. Das Stück hat in Kiel einiges aufgerührt. Nicht nur, dass „Lebenswert“ seit der Uraufführung im November 2023 im Studio des Kieler Schauspielhauses durchgehend ausverkaufte Vorstellungen verzeichnete. Anstelle der wegen Krankheit abgesagten Inszenierung von Shakespeares „Sturm“ zieht es auf die große Bühne um. Darüber hinaus ist das Recherchestück von Marie Schwesinger aber auch Anlass für einen Einwurf aus der Kieler Universität, die vor allem den Neurologen und Psychiater Hans Gerhard Creutzfeldt im Blick hat.

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„Lebenswert“ ist eine Bühnenrecherche, die den schleswig-holsteinischen Verstrickungen in das Euthanasie-Programm nachspürt, mit dem die Nazis über „lebenswertes“ oder „lebensunwertes“ Leben entschieden, Behinderte und psychisch Kranke ermordeten. Als Direktor der Kieler Neurologie (1938-1957) spielt auch Creutzfeldt, außerdem international renommiert als einer der beiden Entdecker der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, darin seine Rolle.

Universität und Schauspiel Kiel: Neubewertung des Psychiaters Hans Creutzfeldt

Zwischen diesen Polen möchten die Kieler Neurologen und emeritierten Professoren Günther Deuschl, 1995 bis 2016 Direktor der Kieler Klinik für Neurologie und weiterhin in der Parkinson-Forschung tätig, und Ulrich Stephani, langjähriger Dekan der Kieler Medizinischen Fakultät, auch in der Universität eine neue Beschäftigung mit dem Vorgänger anregen – auch um dessen wissenschaftliches Renommee für die Stadt nutzbar machen.

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„Creutzfeldt war sicher kein Widerstandskämpfer gegen Hitler, eher ein Deutschnationaler, wie viele aus der Kaiserzeit übrig geblieben waren“, so beschreibt ihn Günther Deuschl, „er wollte wohl vor allem seine Uni möglichst unbehelligt durch den Krieg bringen.“ Das bestätigt auch eine 2020 erschienene Monografie des mittlerweile verstorbenen Kieler Neurologen Michael Illert. Er beschreibt Creutzfeldts Selbstverständnis als das eines Wissenschaftlers und Hochschullehrers, „der dem alten Ideal einer politikfreien, nur den geistigen Werten verpflichteten Universität anhing …“

Die schwebende Haltung Creutzfeldts hat 2018 der Historiker Jörn Henning Wolf in seiner Abhandlung „Große Forscher an der Förde“ so beschrieben: „Reserviert, aber nicht unterschiedslos ablehnend“ gegen die Nazis, deren Partei er zwar nicht beitrat – aber doch der SS als „förderndes Mitglied“ angehörte.

Die Professoren Ulrich Stephani (li.) und Professor Günther Deuschl regen eine Neubeschäftigung mit dem Kieler Psychiater Hans Gerhard Creutzfeldt an.

Die Professoren Ulrich Stephani (li.) und Professor Günther Deuschl regen eine Neubeschäftigung mit dem Kieler Psychiater Hans Gerhard Creutzfeldt an.

Das Theater „Lebenswert“ macht Creutzfeldts Ambivalenz in seinen Zitaten, aber auch in Patientenberichten auf der Bühne sichtbar. Das Stück beleuchtet Creutzfeldts Gutachten, die er offenbar weniger den Nazi-Maßnahmen verpflichtet als von seinen Patienten und der Diagnose ausgehend verfasste – und auf diese Weise, so ist es unter anderem bei Illert und in einer Kieler Dissertation (2003) belegt, zahlreiche Patienten vor der Überweisung in Heil- und Pflegeanstalten und damit vor dem Tod bewahrte.

Creutzfeldt meldete den unter falschem Namen tätigen Euthanasie-Arzt Heyde

Es thematisiert auch, wie Creutzfeldt 1954 den polizeilich gesuchten Euthanasie-Arzt Werner Heyde beim Landessozialgericht Schleswig´enttarnte. Dieser war nach dem Kriege unbehelligt als Gerichtsgutachter Fritz Sawade tätig. Er blieb auch nach Creutzfeldts Hinweis unbehelligt, da der Gerichtspräsident eine Verfolgung ablehnte. Danach verzichtete auch Creutzfeldt darauf, seine Erkenntnisse an die Fahndungsbehörden weiterzuleiten.

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„Creutzfeldts Ambivalenz wollen wir nicht zudecken“, sagt Ulrich Stephani, „aber wir wollen auch seine Meriten benennen und was er für die Neurologie und Psychiatrie geleistet hat.“ Für Günther Deuschl gehört dazu auch Creutzfeldts Funktion als erster Nachkriegsrektor der Kieler Uni: „Ihm haben wir zu verdanken, dass die Universität in Kiel geblieben ist. Die britische Militärregierung hatte schon den Umzug nach Schleswig geplant.“ So bleibt der Neuro-Wissenschaftler diskussionswürdig – und die Frage, wie er im Spektrum von Tätern und Mitläufern einzuordnen ist.

Ab Freitag, 15. März, 20 Uhr, läuft „Lebenswert auf der großen Bühne im Schauspielhaus. Weitere Termine: 16., 22., 27., 28. März; 5., 20., 21. April. Kartentel. 0431/901901

KN



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