Frau Steiner Roth, Sie helfen Menschen mit Essstörungen, damit für sie „ein Stück Brot wieder ein Stück Brot“ wird. Was meinen Sie damit?

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Ein Stück Brot, sinnbildlich für Nahrung, ist für Betroffene nicht mehr nur Essen. Sie verbinden damit Ängste, etwas Falsches zu essen. Ihre Zwänge, nicht zu viel zu essen, damit sie nicht zunehmen. Oder den Kontrollverlust über ihr Essverhalten. Ein Stück Brot sollte Nahrung sein, aber genau das wird für Menschen mit Essstörungen zum Nebenschauplatz für ungelöste Schwierigkeiten und Konflikte.

Das Essen hat also nichts mehr mit Genuss zu tun – das muss hart für Betroffene sein.

Ja. Betroffene fühlen sich mit ihren Gefühlen oft sehr allein. Sie schämen sich für die Essstörung und haben das Gefühl, sich niemandem anvertrauen zu können. Andere Betroffene wollen nicht wahrhaben, dass sie ein Problem haben, und verharmlosen etwa ihre Essanfälle oder die Tatsache, dass sie sich nach dem Essen übergeben. Wenn sie aber nicht erkennen, dass sie eine Essstörung haben, kann das schwerwiegende Folgen haben.

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Welche Folgen können Essstörungen haben?

Die große Scham führt oft dazu, dass sich Betroffene von anderen isolieren. Das kann mit emotionalen und sozialen Entwicklungsverzögerungen einhergehen: Sie können nicht genügend Erfahrungen sammeln, die andere in ihrem Alter machen. Also etwa mit Gleichaltrigen etwas Schönes zu unternehmen oder Liebesbeziehungen zu führen. Gefährlich können auch die langfristigen körperlichen Folgen sein: Aufgrund der Mangelernährung und des Hormonmangels fällt bei Frauen mit

Sie wollen Menschen mit Magersucht, Bulimie und Binge-Eating dabei helfen, wieder ein gesünderes Verhältnis zu Essen zu entwickeln. Wie unterscheidet sich Ihre Unterstützung je nach Essstörung?

Bei Magersucht geht es darum, primär an Gewicht zuzunehmen und die damit verbundenen Ängste auszuhalten – allen voran die Angst, dick zu werden. Ich arbeite mit Gewichtszielen und Essplänen, die ich mit den Betroffenen aushandle. Ich helfe Ihnen dabei herauszufinden, welche Menschen sie allenfalls beim Aushalten der Ängste Bei Bulimie und Binge-Eating geht es darum, Kontrolle über das Essverhalten zu erlangen und Essanfälle zu verhindern. Dann gilt es für Betroffene, ein normales Essverhalten zu etablieren, etwa mit drei ausgewogenen Mahlzeiten pro Tag. Unabhängig von der Art der Essstörung ist es wichtig, in der Therapie darüber zu sprechen, was sich hinter der Essstörung an schwierigen Themen und ungelösten Konflikten versteckt.

Essstörung

Sind Diäten ein Einstieg in die Essstörung?

Können Diäten zu Magersucht, Bulimie oder Binge-Eating führen? Experten und Expertinnen sehen zumindest einen Zusammenhang zwischen Hungerphasen und den Erkrankungen. Manche Gruppen sind dabei aber besonders gefährdet.

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Welche schwierigen Themen und ungelöste Konflikte sind typisch für Essstörungen?

Eine Klientin litt an Binge-Eating, fühlte sich immer „dick, dumm und depressiv“ und wurde in der Schule gemobbt. Sie wollte deshalb diese drei „Ds“, wie sie sie nennt, unbedingt ändern – und zwar zu „dünn, dynamisch und diszipliniert“. Ihre perfektionistischen Ansprüche an sich selbst wurden höher und oft auch unrealistisch: Es gab Tage, an denen sie viel Sport machte und hungerte. Und es gab Tage, an denen sie Essanfälle hatte. Sie hatte einen sehr niedrigen Selbstwert. Ein niedriger Selbstwert und Perfektionismus – das ist sehr charakteristisch für Menschen mit Essstörungen. Sie vergleichen sich oft mit anderen Menschen, häufig zu ihren Ungunsten. Und dies ist mit großem Leidensdruck verbunden.

Bei ständigen Vergleichen mit anderen und Perfektionismus denkt man sofort an Social Media: Es wimmelt von sportlichen, schlanken Models, die ein vermeintlich perfektes Leben führen. Welche Rolle spielen soziale Netzwerke wie Instagram bei Essstörungen?

Ich sehe sie nicht als Ursache, aber sie sind ein wesentlicher Faktor, der Essstörungen begünstigen kann. Auf Social Media geht es oft darum, sich möglichst gut zu präsentieren. Der Körper sollte dünn und sportlich aussehen. Das Problem ist, dass die Plattformen nicht die Realität abbilden: Alle sehen glücklich fit und vielbeschäftigt aus, was für keinen Mensch immer die Realität ist. Wer einen geringen Selbstwert hat, kann das allerdings oft schlecht differenzieren und will diesem Idealbild entsprechen. Der Vergleich mit den Menschen auf Social Media kann dann dazu führen, dass sich die Betroffenen noch schlechter und wertloser fühlen. Was wiederum dazu führt, dass sie sich noch mehr anstrengen, um alles möglichst perfekt zu machen.

Social Media tut also Betroffenen nicht gut?

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Zumindest löst es bei vielen einen großen Leidensdruck aus. Wenn Betroffene beispielsweise eine sportliche Frau sehen, denken sie nicht „toll, dass sie so fit ist und so gut schwimmen kann“, sondern „ich muss das auch können, sonst bin ich nicht gut genug“. Es schädlich, sich ständig mit anderen zu vergleichen. Das ist auch gar nicht nötig, denn jeder Mensch ist einmalig und individuell. Ich empfehle Menschen mit Essstörungen deshalb oft, sich für eine bestimmte Zeit von Social Media zurückzuziehen. Viele erleben dann eine große Erleichterung.

Essstörungen galten lange Zeit als Thema für Frauen. Sie arbeiten aber auch mit vielen Männern zusammen. Hat der Anteil an Männern mit Essstörungen aus Ihrer Erfahrung zugenommen?

Ja. Im Vordergrund steht bei ihnen oft, dass sie durchtrainierte Körper haben wollen – Sixpack, Muskeln und kein Gramm Fett. Sie hungern und treiben exzessiv Sport, um dies zu erreichen. Ich würde sagen, dass es bei den Gründen, welche die Essstörung verursachen und aufrechterhalten, zwischen den Geschlechtern kaum Unterschiede gibt. Auch bei Männern geht es meist um einen geringen Selbstwert und um Perfektionismus. Sie wollen ihren Körper deshalb zwanghaft verändern, um sich besser zu fühlen.

Ich rate Eltern, wenn immer möglich darauf zu verzichten, die äußere Erscheinung ihrer Tochter oder ihres Sohnes zu kommentieren und zu bewerten.

Woher kommt dieses Verlangen, den Körper derart optimieren zu wollen?

Unsere Gesellschaft ist sehr leistungsorientiert: Wer attraktiv, schlank und extravertiert ist, hat oft bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt und mehr Erfolg im Sozialleben. Wenn auch in der Familie und Verwandtschaft sehr viel Wert auf Äußerlichkeiten und Leistung gelegt wird, wird dieses Ideal verinnerlicht und kann zu großen Versagensängsten führen. Die Betroffenen versuchen dann, mit Leistung, angepasstem Verhalten und attraktivem Aussehen Liebe und Anerkennung zu erhalten.

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Ich schätze, es ist in Hinblick auf Essstörungen keine gute Idee, wenn Eltern auf das Aussehen ihrer Kinder achten?

Da haben Sie recht. Wenn der ganze Fokus nur auf Äußerlichkeiten gelegt wird, wird der Mensch dahinter kaum gesehen und wahrgenommen. Deswegen rate ich Eltern, ihre Kinder als Individuen ernst zu nehmen und wenn immer möglich darauf zu verzichten, die äußere Erscheinung ihrer Tochter oder ihres Sohnes zu kommentieren und zu bewerten.

Sandra Steiner Roth: „Das Stück Brot ist wieder ein Stück Brot“, Hogrefe Verlag, 30 Euro, ab 11. März 2024 erhältlich.

Sandra Steiner Roth: „Das Stück Brot ist wieder ein Stück Brot“, Hogrefe Verlag, 30 Euro, ab 11. März 2024 erhältlich.

Was können beispielsweise Eltern oder Partner tun, wenn ihnen ein ungesundes Essverhalten bei nahestehenden Menschen auffällt?

Nicht wegschauen und unbedingt ansprechen. Am besten in Ichbotschaften konkrete Beobachtungen mitteilen: „Mir ist aufgefallen, dass du gar kein Brot mehr isst, das macht mir Sorgen“ zum Beispiel. Die Betroffenen ernst nehmen, ein offenes Ohr bieten und auf jegliche Wertung verzichten. Die Betroffenen ermutigen, professionelle Hilfe anzunehmen und bei der Suche nach einer Fachperson Unterstützung anbieten. Es kann auch helfen, wenn sich die Angehörigen über die Krankheit informieren, Bücher dazu lesen, um die Dynamik von Essstörungen besser zu verstehen. Es ist wichtig, dass Betroffene ihre Situation ernst nehmen und professionelle Hilfe suchen – denn allein kriegt man Essstörungen selten in den Griff.

Was sind die ersten Anlaufstellen für Betroffene?

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Im Allgemeinen brauchen Menschen vor allem therapeutische Hilfe von Fachleuten, die sich mit Essstörungen auskennen. Das ist schwierig, denn es gibt oft nur sehr wenige Therapieplätze. Auch Beratungsstellen können Hilfe anbieten, und eine Ernährungsberatung kann ebenfalls sinnvoll sein. Der Hausarzt oder die Hausärztin sind die Ansprechpersonen bei körperlichen Belangen. Wenn bei Frauen die Menstruation ausfällt, sollten sie eine Gynäkologin oder einen Gynäkologen kontaktieren.

Sie bieten unter anderem auch Gruppenangebote für Betroffene an. Wie hilft es ihnen, wenn sie mit anderen Betroffenen in Kontakt kommen?

Sie fühlen sich verstanden und weniger allein mit ihren Problemen, besonders dann, wenn sie von ihrem sozialen Umfeld zu wenig verstanden und ernst genommen werden. Die anderen in der Gruppe haben ähnliche Probleme, was zu einer Entlastung und zu mehr Verständnis für sich selbst führt. Ich würde eher nicht empfehlen, dass Betroffene zu Beginn ihrer Behandlung an einer Gesprächsgruppe teilnehmen, da dies zu einer Überforderung führen könnte. Sinnvoller ist es, sich zuerst im Einzelgespräch mit sich selbst auseinanderzusetzen, bevor man mit den Geschichten der anderen konfrontiert wird.

Wie schwierig ist es, einen Ausweg aus einer Essstörung zu finden?

Grundsätzlich gilt: Je länger Betroffene eine Essstörung haben, desto länger dauert es, sie zu überwinden. Es ist in jedem Fall ein langer Weg, der für Betroffene mit großen Ängsten verbunden ist. Rückschläge gehören zum Genesungsprozess dazu und Geduld ist jetzt gefragt.

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Wie können es Menschen im Laufe der Behandlung schaffen, ihren Körper wieder lieben zu lernen – und ein Stück Brot wieder als Stück Brot zu sehen?

Wichtig ist, dass sie Selbstwirksamkeit erfahren, indem sie es Schritt für Schritt trotz der Ängste schaffen, ihr Essverhalten zu verändern, was das Gefühl von Selbstliebe und Selbstwert stärkt. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist Akzeptanz. Eine Klientin erzählte mir einmal, sie würde gern aussehen wie eine Elfe. Es war für sie schmerzhaft, dieses Ideal loszulassen und zu lernen, sich so anzunehmen, wie sie ist. Und wenn andere Lebensinhalte in den Vordergrund treten, bekommt das Stück Brot wieder seine ursprüngliche Bedeutung.

Hilfe für Betroffene und Angehörige

Sind Sie selbst oder jemand, den Sie kennen, betroffen? Hier finden Sie hilfreiche Informationen zum Thema Ess­störungen:

  • Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) stellt hier Infos zu Beratung und Behandlung von Ess­störungen zur Verfügung.
  • Was sind die Symptome einer Essstörung? Was kann ich tun, wenn ich betroffen bin? Hier informiert das Bundes­ministerium für Gesundheit über Ess­störungen.



Source link www.ostsee-zeitung.de