Slowjansk. Monatelang und ohne Unterbrechung verteidigte eine Brigade einen Block von Industriegebäuden in Awdijiwka. Eine andere war fast seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen ihr Land in der ostukrainischen Stadt im Einsatz. Eine Ablösung gab es nicht, die Truppe war am Ende ihrer Kräfte.
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Den vorstoßenden russischen Soldaten hatten die Verteidiger immer weniger entgegenzusetzen, auch weil die Munition knapp wurde. Als das Durchhaltevermögen schon völlig geschwächt war, verschwand auch noch ein Bataillonskommandeur – unter undurchsichtigen Umständen. Dies geht aus Ermittlungsdokumenten hervor, die der Nachrichtenagentur AP vorliegen. Auch ein Soldat, der ihn begleitete, wurde seitdem nicht mehr gesehen. Ein anderer wurde tot aufgefunden.
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„Außer Handschaufeln nicht viel gehabt“
Nahezu umzingelt und zahlenmäßig weit unterlegen, mussten die ukrainischen Truppen schließlich Mitte Februar den Ort in der Region Donezk räumen und dem Feind überlassen. Im Gespräch mit AP-Reportern schildern Soldaten, wie sie die Monate davor erlebten.
„Wir waren nicht so sehr körperlich erschöpft als vielmehr psychisch, so an diesen Ort gekette“, sagt Viktor Biljak aus der 110. Brigade. Er war seit März 2022 in der Region gewesen. Seine Einheit befand sich am südlichen Stadtrand von Awdijiwka. Normalerweise würden Befestigungen gegraben, erklärt Biljak. Aber es habe ständig russische Angriffe gegeben und er und seine Kameraden hätten außer Handschaufeln nicht viel gehabt.
Eine Zeit lang funktionierte die Verteidigung. Die russischen Soldaten seien schlecht vorbereitet gewesen, sagt Oleh aus der 47. Brigade über seine Ankunft in Awdijiwka im Oktober. Doch Ende November merkten die Ukrainer, dass sich die Taktik verändert hatte. Die Russen warfen Gleitbomben – ungelenkte Waffen aus der Sowjetära, die mit einem Navigationssystem nachgerüstet wurden – und schickten Sprengstoffdrohnen, die in Gebäude vordringen können und mit Bewegungssensoren ausgestattet sind.
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Soldaten fühlten sich im Stich gelassen
Die Ukrainer wehrten sich mit dem, was von ihren schwindenden Munitionsvorräten geblieben war. Auf jede Granate hätten die Russen mit acht oder neun reagiert, berichten die Männer. Oleh spricht von einem „Eintopf von Granaten“.
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Unter dem Druck der russischen Angriffe zogen sich im vergangenen Herbst dann Hunderte ukrainischer Soldaten in die Kokerei von Awdijiwka zurück. Die Anlage aus der Sowjetzeit mit ihren vielen Gängen, Schienen und Tunneln schien eine gute Verteidigungsposition. Doch Anfang des Jahres wurde es auch dort eng für die ukrainischen Truppen.
Derweil fühlten sich viele der Soldaten im Stich gelassen, weil sie nicht ausgetauscht wurden und weil die Waffen ausgingen. Die russischen Angreifer hingegen schienen nach Eindruck der Verteidiger einen schier unerschöpflichen Vorrat zu haben. Angesichts des Dauerdrucks und fehlender Hilfe sei ein Rückzug in den Blick gerückt, sagt Oleh. „Ihre ständigen Angriffe erschöpften uns.“
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Verstärkung kam, als es schon zu spät war
Anfang der zweiten Februarwoche kam Verstärkung. Doch als die erfahrene 3. Angriffsbrigade an der Kokerei eintraf, hatten die Russen die Anlage schon weitgehend in die Zange genommen.
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Am 9. Februar kamen ukrainische Offiziere in einem Kommandoposten außerhalb von Awdijiwka zusammen, einige Kilometer von der Kokerei entfernt. Es soll eine hitzige Diskussion gegeben haben. Ein Kommandeur und zwei Soldaten verließen den Ort mit dem Auto. Zwei der Männer verschwanden, der dritte wurde erschossen aufgefunden. Was passierte, liegt im Dunkeln. Die ukrainischen Behörden gehen nicht davon aus, dass der vermisste Kommandeur geheime Informationen bei sich trug.
Knapp eine Woche später, am 15. Februar, kam für die 110. Brigade der Befehl zum Rückzug an der Südflanke von Awdijiwka. Viktor Biljak war da seit fast zwei Jahren an Ort und Stelle gewesen. Früher wäre besser gewesen, sagt Biljak. Sie hätten schon länger gewusst, dass es vorbei sein würde. Die 3. Angriffsbrigade erhielt am nächsten Tag die Order zum Rückzug aus der Kokerei. Am 17. Februar erklärte Russland die Einnahme von Awdijiwka.
RND/AP