Berlin. Das Taschentuch von Melek Bektas ist schon wenige Minuten nach Veranstaltungsbeginn komplett vollgesogen. Sie tupft sich damit die Tränen weg, die unaufhörlich aus ihren Augen strömen, während Moderatorin Patrycja Kowalska ihr Schicksal erzählt: 2012 wurde Bektas’ Sohn Burak in Berlin-Neukölln erschossen. Ein Mann hatte aus dem Nichts auf den 22‑jährigen Deutsch-Türken gezielt. Der Fall ist bis heute ungeklärt, der Täter unentdeckt.

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„Buraks Akte wurde genauso wie die anderer Opfer unter den Teppich gekehrt“, sagte Bektas am Montagmittag in Berlin. Sie ist Teil eines Solidaritätsnetzwerks von Angehörigen, Betroffenen und Überlebenden rechter, rassistischer und antisemitischer Morde und Gewalt. Das Bündnis besteht seit zwei Jahren und präsentierte sich am Montag erstmals der Öffentlichkeit.

Zahlreiche Mordfälle sind bis heute ungeklärt

Überlebende und Angehörige kritisieren, dass Fälle wie der Mord von Burak Bektas bis heute nicht vollständig aufgeklärt sind. Im Falle Bektas wurde 2015 ein Deutscher verdächtigt, nachdem er in Neukölln den Briten Luke Holland erschossen hatte. Die Tatverläufe ähneln sich, doch die Behörden konnten keinen Zusammenhang herstellen. Seit 2022 wird der Fall als Teil einer Serie von Anschlägen in Neukölln vor dem Berliner Abgeordnetenhaus untersucht. „Ich will den Mörder meines Sohnes“, sagte Bektas unter Tränen.

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Das Netzwerk wählte für seinen ersten öffentlichen Auftritt bewusst den 11. März, den Nationalen Gedenktag für die Opfer terroristischer Gewalt. Das Datum ist angelehnt an einen Terroranschlag in Madrid am 11. März 2004. Auf europäischer Ebene wurde der Gedenktag 2005 eingeführt, in Deutschland 2022.

Für eine Gedenkveranstaltung hatte die Bundesregierung Angehörige und Opfer terroristischer Gewalt nach Berlin geladen. Betroffene mussten sich über ein Formular anmelden, von den Teilnehmenden der Podiumsdiskussion war niemand eingeladen worden. Sie kritisierten das bürokratische Vorgehen der Bundesregierung: „Es sollte eine offene Veranstaltung sein, zu der alle Angehörigen kommen können“, sagte Mamadou Saliou Diallo. 2005 wurde sein Bruder Oury Jalloh in Dessau bei einer Polizeikontrolle festgenommen und mutmaßlich im Gewahrsam von den Polizisten geschlagen und verbrannt. Die Hintergründe zu seinem Tod sind bis heute unklar.

Angehörige stellen selten Anträge auf Entschädigung

Bürokratische Hürden erschwerten Betroffenen auch die Antragstellung für Entschädigungen. Gerade Alleinerziehende und Personen mit geringen Deutschkenntnissen würden die Formulare selten ausfüllen. „Sie sind traumatisiert von ihren Erlebnissen und haben keine Kraft für den bürokratischen Aufwand“, erklärte Patrycja Kowalska. Sie engagiert sich in München für die Aufarbeitung des Terroranschlags am und im Olympia-Einkaufszentrum 2016.

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Damals erschoss ein 18‑jähriger Deutsch-Iraner neun Menschen und anschließend sich selbst. Die Behörden gingen zunächst von einem Amoklauf ohne politische Beweggründe aus. Erst drei Jahre später wurde der Vorfall als „rechtsextremistisch motiviert“ eingestuft. „Wir brauchen mehr Aufklärung über die verschiedenen Formen terroristischer Gewalt“, forderte Yasmin Kilic. Der Begriff Terror sei zu unspezifisch – stattdessen müssten die verschiedenen Nuancen dieser Gewaltform stärker ausgearbeitet und die Gesellschaft aufgeklärt werden. Kilics Sohn Selçuk wurde bei dem Attentat 2016 erschossen.

Das Netzwerk sieht in dem Vorgehen der Bundesregierung und der Behörden eine Diskriminierung von Betroffenen terroristischer Gewalt. Das zeige sich auch darin, dass bestimmte Vorfälle wie das Attentat von Hanau, bei dem 2020 neun Menschen getötet wurden, mehr Aufmerksamkeit bekommen als beispielsweise das München-Attentat. „Alle Opfer teilen das gleiche Leid. Das muss der Staat verstehen. Es darf keine Kategorisierung oder Privilegierung gewisser Opfer geben“, so Diallo.



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