Wokeness, da muss man erstmal nachlesen, um zu verstehen, wo wir diesen Begriff hergezaubert haben und was mal die initiale Grundidee dahinter war. In den 1930ern entstand der Begriff als Beschreibung für besonders wache und aufmerksame Köpfe gegenüber dem Thema Rassismus. Eine schöne und im damaligen Kontext sinnvolle Sache.
Wie so oft in der heutigen Welt des Gutmenschentums ist die Thematik nun völlig aus den Fugen geraten und hat sich verselbstständigt. Unter dem Titel der Wokeness wird nun die Meinung jedes vermeintlich anders Denkenden gerne gecancelt, das heißt, im Idealfall völlig von der Bildfläche verdrängt.
Die Idee, den Menschen das Denken beizubringen, wird durch die Vorstellung ersetzt, den Menschen vorzuschreiben, was sie zu denken haben. Hier wird es gefährlich, gefährlich bevormundend und absolut ausgrenzend.
Sprachliche Zwangsneugestaltung
Es sollen nun also Bücher umgeschrieben, ganze Begriffe verboten werden. Dass kein klar denkender Mensch Rassismus befürwortet, erübrigt sich zu sagen. Jedoch ist der klassische Rassist selten allein an seiner Ausdruckweise zu identifizieren, umgekehrt ist durch eine „Säuberung“ der Sprache keine Xenophobie und kein Extremismus auszumerzen oder gar zu verhindern.
Dennoch wünscht sich ein Teil eine Gleichmachung, um damit vermeintliche Inklusion durch die Ausgrenzung Andersdenkender zu erzielen. Dabei sind dann alle Mittel heilig, wenn es nur um den guten Zweck geht. Diesen definiert sich die woke Generation gleich selbst, dann ist es auch einfacher, diese Definition nach Belieben zu korrigieren und anzupassen.
Es droht Usus zu werden, dass es Minderheiten gelingt, der Mehrheit ihre Meinung und die von ihnen gewünschte Ausdrucksweise zu oktroyieren. Wie wir den Geschichtsbüchern entnehmen können, ist diese Praxis der Ausgrenzung und sprachlichen Zwangsneugestaltung historisch betrachtet noch nie wirklich gut ausgegangen.
Ich zitiere Roman Bucheli aus der NZZ vom 18. April 2023: „Sprachpuristen nehmen immer rabiater die Literatur ins Visier einer inquisitorischen Säuberung. Manche Verlage beugen sich dem Druck und tilgen Verstörendes und vermeintlich Verletzendes. Die Welt wird aber nicht besser, nur weil ein Wort aus den Büchern entfernt wird.“ Justement au contraire, es treibt einen Keil durch die Gesellschaft und es animiert geradezu zu einer Lagerbildung. Ein Gros der Menschen traut sich nicht mehr, seine Meinung offen zu äußern, um nur ja nicht anzuecken.
Ins Abseits gestellt
Doch wo stehen wir: Jeder, der in der vergangenen Corona-Zeit nicht sofort auf den Zug eines irrlichternden „Gesundheitsexperten“ in der Meinung zu einem wenig erprobten Impf-stoff aufsprang und konsequent mit der FFP 3-Maske durch die Landschaft zog, der wurde kurzerhand zum Aluhut, Nazi und Reichsbürger gestempelt.
Wie schön einfach ist es doch, den politischen Gegner zu isolieren, statt sich ihm rhetorisch, inhaltlich, intellektuell stellen zu müssen. Ins Abseits zu stellen ist auch weit weniger fordernd, als sich auseinandersetzen zu müssen.
Wenn Kindergärten Nachrichten verschicken, in denen Eltern aufgefordert werden, ihren Kindern die Traditionen des klassischen Muttertages vorzuenthalten, um niemanden durch dieses klassische Rollenbild zu stören, dann wedelt hier der Schwanz mit dem Hund. Das liest sich für mich wie die Maximalform der Intoleranz, und zwar der Minderheit gegenüber der Mehrheit.
Texte werden durch den Einsatz von Gendersternchen bis zur Unlesbarkeit dem Zeitgeist „angepasst“ und selbst vor althergebrachten traditionellen Büchern macht die Quote und die Gleichstellung nicht halt. Da werden Begriffe ausgetauscht, da wird umformuliert, damit nur ja keiner sich ausgegrenzt fühlt.
George Orwell sagte: „Je weiter sich eine Gesellschaft von der Wahrheit entfernt, desto mehr wird sie diejenigen hassen, die sie aussprechen.“
Selbstbestimmung und Liberalitas
Die allerneueste Sau, die durchs Dorf getrieben wird, ist die „kulturelle Aneignung“, eine schräge Begrifflichkeit, die das Verkleiden oder Imitieren zu unterbinden sucht. Da soll nun also kein Karnevalist aus Mettmann mehr im Sombrero auftreten dürfen, da er damit dem Mexikaner nicht auf die Füße steige. Tat er das denn je? Stört sich der Scheich an den Kindern, die in ein Bettlaken eingehüllt sich für einen Moment dem Kamel und der Oase in ihrer Fantasie näher fühlen?
Doch wo ist all dieses „Verständnis“ hergekommen? Oder schärfer, ja präziser ausgedrückt: Wo sind uns die Logik und das Maß und Ziel abhandengekommen? Wieso sollte sich die Mehrheit den schrägen Gedanken von wirren Minderheiten unterwerfen?
Ich gewinne den Eindruck, dass unsere sprachlichen Freiheiten seit geraumer Zeit eher reduziert werden, und all das ohne jegliche Not. Es geht stets mit pauschalen Verboten los, die sich dann ausweiten.
Welch ein Segen, dass wir noch kein Tempolimit haben, ist schon ein pauschales Rauchverbot ein absoluter Irrsinn. Wieso sollte es so etwas geben? Wenn zwei Raucher gemeinsam eine Kneipe eröffnen und an die Tür schreiben, dass diese nur für Raucher (sowohl beim Personal als auch bei den Gästen) gedacht, konzipiert und gelebt wird, dann ist das illegal? Wieso? Das entbehrt jeder Logik, jeder Fairness, jeder Toleranz.
„Die Wahrheit nicht aussprechen“
Es ist Zeit, dass wir uns auf das zurückbesinnen, was relevant ist, was in den USA schon in der Verfassung steht: das Recht auf “Pursuit of happiness“ – anders ausgedrückt die Selbstbestimmung, die uns zusteht.
Sich nicht einzuschränken, um anderen zu gefallen, gehört auch dazu. Und vor allem die alte Liberalitas – das Leben und leben lassen –, sie gilt es zu erhalten. Die von mir favorisierte Definition der viel zu oft angesprochenen „Political Correctness“ ist ebenso kurz wie treffend: „Die Wahrheit nicht auszusprechen, um Menschen, die man nicht mag, einen Gefallen zu tun.“
Man darf nicht gefallen wollen, man muss auf seinem Standpunkt stehen und kann diesen nach Belieben aktiv verteidigen, sich dafür stark machen, suaviter in modo, fortiter in re (Sanft im Auftreten, entschlossen in der Tat).
Wann immer in der Historie die Freiheit der Sprache verloren ging, war die Freiheit des Einzelnen dahin und damit das Ende des klaren und freien Denkens nahe. Dahin wollen wir nie zurück.
Kürzlich stieß ich auf folgende Definition, bedauerlicherweise ohne ihren Urheber ausfindig machen zu können: „Politische Korrektheit bedeutet, beleidigende Absichten zu unterstellen, wo keine sind, und mit dieser falschen Begründung moralischen Druck in Richtung auf Verhaltensänderung auszuüben.“
Emotion vor Fakten
Früher war es die Jugend, die versucht hat, sich vom Durchschnitt abzusetzen. Bloß nicht so sein wie alle, das war eines der vorrangigen Ziele. Man kleidete sich anders, benahm sich anders und signalisierte damit gerne, anders zu sein und vor allem anders zu denken. Das war kurz nach den Zeiten, in denen man mit einem Minirock oder einem Bikini noch das Establishment wenn nicht schockieren, dann doch provozieren konnte.
Da war der Tätowierte die Ausnahme und der Hut des Herren fast noch so häufig wie die Krawatte. Logisch, da konnte man mit bunten Haaren oder zerrissenen Jeans noch auffallen und herausstechen. Doch was dies auch durchaus bewirkte, war die herrliche Heterogenität, es ließ eine breite Kreativität zu.
Es gab alle möglichen Fraktionen und Facetten, praktisch jede Minderheit war in irgendeiner Form irgendwo vertreten und alles war vertretbar. Jeder kam irgendwie und irgendwo zu Wort und die Welt ebenso wie die Dialoge waren sehr bunt. Zwischen schwarz und weiß war praktisch jede Farbe des großen Spektrums repräsentiert.
Heute tut die Welt gar so bunt und weltoffen, sie ist jedoch weit intoleranter geworden, als man es vermuten würde. Es wird vermeintlich fokussiert auf diverse Inklusionen, die jedoch stets darauf basieren, dass ein relevanter Teil exkludiert, aktiv ausgeschlossen wird.
Es wird so getan, als hole man alle Meinungen an Bord, wobei viele billigend in Kauf nehmen, die, die nicht so denken, im gleichen Atemzug über Bord zu werfen. Individualität wird geduldet oder gar „gefeiert“, solange sie in einen Rahmen passt und vor allem mit dem vermeintlichen Zeitgeist zusammenpasst. Das Polarisieren wird vielleicht noch besprochen, jedoch nicht mehr gelebt.
Emotion vor Fakten
Man sagt dem Islam nach, er poche stets dort auf Toleranz, wo er in der Minderheit sei. Dies lässt sich auf praktisch alle Religionen und auch auf Meinungsgruppierungen heute oft synchron verwendbar, übertragen und erklärt, wie einfach es ist, aus einer Minderheitenmeinung heraus die Welt belehren zu wollen.
Das geht politisch los, man versucht als Volkspartei gar nicht mehr fernab der Mitte Position zu beziehen, um nur ja niemanden vor den Kopf zu stoßen. Everybody’s darling zu sein wird nicht nur geduldet, es wird sogar gefordert und als Standard definiert. Anders ausgedrückt darf sich jeder äußern, wie und wozu er will, solange es nur in das öffentlich postulierte Weltbild passt.
Es wird diskutiert, jedoch oft fernab von Themen und Inhalten, auf jeden Fall fernab der Fakten, solange die Emotionen entsprechend adressiert werden. Es wird vorgegeben, was zu denken genehm ist und was nicht in das breite Weltbild passt.
Nehmen wir beispielsweise die Diskussion rund um den Umbau der Sprache, die aufgezwungene Umformulierung oder gar Neuschreibung von Literatur, das Begriffsfeld der Political Correctness, eine kleine Minderheit diktiert, was die Welt zu denken hat. Das hat weder etwas mit Demokratie zu tun noch mit liberalem Denken noch mit Logik oder Fakten. Aber für einen kleinen Teil fühlt es sich unglaublich gut und richtig an, das scheint zu zählen: Emotion vor Fakten.
Dem denkenden Kopf ist es schwer zu vermitteln oder gar eingänglich zu erklären, wieso das Denken gezwungenermaßen innerhalb neu definierter Leitplanken stattzufinden hat. Wir sind noch groß geworden mit dem Anspruch, über Themen selbst nachzudenken, uns eigene Meinungen zu bilden. Dazu gehört für mich, und das begrüße ich bis heute, eine deutliche, direkte Diskussion, eine Auseinandersetzung, kein Einheitsbrei und kein general agreement.
Einer der wilderen Auswüchse des oktroyierten Mainstreams ist die Befürwortung von Quoten. Eine Quote ist stets ein Schlag ins Gesicht von qualifizierten Köpfen – jede intelligent Frau, die in eine neue Position gerät, ist zu bemitleiden, da stets der Gedanke mitschwingt, sie sei einzig und allein aufgrund der Quote dorthin gelangt.
Starke Individuen haben es seit jeher geschafft, sich durchzusetzen, gehört zu werden und in den Fokus zu rücken, weit fernab von Quotengedanken. Die Quote betoniert das Mittelmaß und spricht sich stets gegen den althergebrachten Begriff der „Exzellenz“ des Herausragens aus.
Raum und Möglichkeit zur Radikalisierung
Auf lange Sicht kann ich vor all diesem Weichspüler und Gleichrichtungswahn nur warnen. Damit werden die Seitenflügel der Gesellschaft isoliert, was wiederum Raum und Möglichkeit zur Radikalisierung lässt.
Es ist stets an den langen Enden der Gauss’schen Verteilungskurven, wo sich Innovation heraus- kristallisiert, wo sich Neues entwickelt. Da ist es essenziell, jede Gruppierung, jeden Geist mit einzubeziehen, um von dessen Denkweise zu lernen und dadurch zur Entwicklung der Gesellschaft in toto beizutragen.
Eine gewagte Theorie, deren Wahrheitsgehalt die Zeit stets aufs Neue in Frage stellt, bezieht sich auf randständige Parteien. Eine reine Oppositionspolitik ist meist einfacher gesprochen und verbal verargumentiert als sie real in der Regierungsverantwortung gelebt und umgesetzt werden kann. Vom Spielfeldrand zu kritisieren ist simpel im Vergleich dazu, es auf dem Feld selbst aktiv besser zu machen.
Insofern hat das Ergreifen und Erlangen von Verantwortung eine kathartische Wirkung, es schwenkt den Blick des Kritikers vom Inhalt auf die Kompetenz und lässt nicht selten die Limiten der eigenen Fähigkeiten erkennen. Insofern halte ich es für begrüßenswert, wenn langjährige Außenseiter in den Fokus des Handelns und somit auf den Prüfstand der eigenen Inkompetenz gelangen.
Alles, nur kein Mainstream
Filterblasen, heute oft technisch gefüttert, unterstützen das Kochen im eigenen Sud. Die Technik in den Online-Medien führt dazu, dass man immer mehr Informationen aus dem eigenen Meinungsfeld angezeigt bekommt und liest, bis hin zum Ausblenden von konkurrierenden oder gar oppositionellen Gedanken. Das kann sich dann zu einem sich selbst erhaltenden Kreislauf entwickeln.
Aus diesem entsteht dann – je nach Gesinnung und eigener mentaler Stärke – ein circulus vitiosus oder auch sardonicus, ein Teufelskreis. Lasset uns den Anfängen Einhalt gebieten. Nicht die Anklage des vermeintlich Falschen, nein das Vorleben des Vorbildlichen beinhaltet eine Realitätsprüfung und erlaubt den langfristigen Entwicklungspfad hin zum Feind des Guten, hin zum Besseren.
Um dorthin zu gelangen, ist es hilfreich, das Denken oft seine Richtung wechseln zu lassen, vielen Strömen Gehör zu schenken, das audiatur et altera pars (man höre auch die andere Seite) zu leben – alles, Hauptsache nur ja kein Mainstream.