Angesichts der humanitären Not sollen Hilfsgüter verstärkt über den Seeweg in den Gazastreifen gelangen. Nur: Bis der Hafen steht, kann es dauern.
BERLIN taz | Gut 16.000 Lkw und 1.200 aus der Luft abgeworfene Hilfspakete – das sind die Hilfslieferungen, die den Gazastreifen mit seiner Bevölkerung von knapp über zwei Millionen Menschen seit Beginn des Gaza-Krieges im vergangenen Oktober erreicht haben. Viel zu wenig, um eine angemessene Versorgung der Zivilbevölkerung in dem abgeriegelten Küstenstreifen sicherzustellen, warnen Hilfsorganisationen seit Langem. Vor allem im Norden Gazas, wo – allen Evakuierungsaufrufen des israelischen Militärs zum Trotz – Berichten zufolge noch über eine halbe Million Menschen ausharren, ist die Lage verheerend.
Die Weltgesundheitsorganisation berichtet: Etwa 15 Prozent der Kinder unter zwei Jahren im nördlichen Gazastreifen seien mangelernährt. Das humanitäre Informationsportal ReliefWeb schreibt zudem, dass Schwangere, Mütter im Wochenbett sowie ihre Neugeborenen akut gefährdet seien. Lokale Journalisten aus Gaza berichten der taz immer wieder von vor Ort, wie schwierig es ist, an bezahlbare Nahrungsmittel und dringend benötigte Hilfsgüter wie Zelte zu kommen.
Israel betont zwar, dass es Hilfslieferungen ermögliche und sich an getroffene Vereinbarungen halte. Doch die Abwicklung lahmt. Immer dringender wird so die Suche nach alternativen Wegen für Hilfslieferungen: In den vergangenen Tagen nahmen Abwürfe von Hilfspaketen aus der Luft zu. Diese fanden bisher über Nordgaza statt. Am Freitag zeigten sich jedoch die Nachteile dieser Methode: Einige Pakete landeten im Meer, fünf Menschen wurden von einer Ladung, bei der der Fallschirm nicht aufging, erschlagen.
Vertrauen des Westens in Israel schwindet
Wenn Lieferungen via Land und Luft nicht ausreichend funktionieren, bleibt noch das Meer: Die EU, die USA, die Vereinten Arabischen Emirate und weitere Staaten setzen gemeinsam auf einen humanitären Korridor auf See, der in Zypern beginnen und in Gaza-nahen Häfen in Ägypten und Israel enden soll. Die „Open Arms“, ein Schiff, das einer spanischen NGO gehört, soll nun den Korridor erstmals nutzen. Es hat 200 Tonnen Hilfsgüter geladen und sollte spätestens Sonntagabend vom zyprischen Larnaka aus starten (hier: Live-Tracking).
Weil es in Gaza an der nötigen Hafen-Infrastruktur fehlt, ist unklar, wo und wie das Schiff nach Ankunft in den Gewässern vor der Küste des Gazastreifens seine Fracht löschen soll. Das Anliefern der Güter gilt als große Herausforderung, weil es nur einen kleinen Fischerhafen gibt, der nicht tief genug für Frachtschiffe ist. Die USA arbeiten deshalb an einem größeren Plan: Ein temporärer Hafen soll vor der Küste Gazas errichtet werden. Ein erstes Schiff, das die Ausrüstung für den geplanten Pier an Bord trägt, schiffte am Wochenende vom US-Bundesstaat Virginia gen Gaza aus. Laut US-Verteidigungsministerium wird es jedoch bis zu 60 Tage dauern, bis der temporäre Hafen voll einsatzfähig ist.
Das Ausweichen auf eigene Lieferungen, bei denen Israel aus dem Prozess so weit als möglich herausgenommen wird, zeigt auch: Das Vertrauen der westlichen Staatengemeinschaft in Israel schwindet. Für die Lieferungen über den Seeweg besteht Israel – aus Sorge vor dem Schmuggel von Waffen und in der Kriegsführung der Hamas einsetzbaren Gütern – allerdings ebenfalls auf Inspektionen. Die Schiffe, die aus Zypern ablegen, sollen direkt auf der EU-Insel überprüft werden. Was Israel nicht inspiziert hat, darf nicht nach Gaza.
Zwei Grenzübergänge sollen derzeit theoretisch den Hilfskonvois über Land die Einreise nach Gaza ermöglichen: Kerem Schalom (von Israel) und Rafah (von Ägypten). Die Lieferungen über Kerem Schalom werden seit Januar wiederholt von den Angehörigen weiter in Gaza festgehaltener Geiseln und ihrer Verbündeten blockiert. Auch die Lieferungen über Rafah kranken – neben den strengen Inspektionen von israelischer Seite – auch an den häufig korrupten ägyptischen Grenzern, die hohe Summen für die Passage von Lastwagen verlangen sollen.
Israel verweist außerdem auf die Hilfsorganisationen vor Ort: Es könne nur so viel Hilfe eingeführt werden, wie diese auch verteilen könnten. Doch die Zerstörung der Infrastruktur und die unübersichtliche Lage in Gaza erschwert das. Zudem wird der Hamas immer wieder vorgeworfen, sich selbst an den Hilfslieferungen zu bedienen – um sie entweder intern zu verteilen oder überteuert an die Zivilbevölkerung zu verkaufen.