Die gut besuchte Olympiahalle wirkt auf geheimnisvolle Weise wie frisch poliert, wie ein neugekaufter Kleinwagen, der leicht nach Kunstteppich und Plastik riecht. Das Saalbild erinnert an eine Soap-Opera, die in einem Tonstudio spielt, das Mischpult, die ordentlich aufgestellten Stühle, das zurückhaltend-brave Publikum.

Selbst die Verkäuferinnen und Verkäufer am Merchandise-Stand strahlen eine gespenstische Harmlosigkeit aus und bieten T-Shirts mit der Aufschrift “Blunty’s” an. Warum nicht mal einen gemütlichen Biedermeier-Abend genießen. Ein Hinweis, dass der Abend vielleicht doch anders verlaufen könnte als befürchtet, ist die vor Konzertbeginn laufende Playlist, die provokante Songs wie “Psycho Killer” von Talking Heads zu bieten hat. 

James Blunt in München: Liebe liegt in der Luft

Gegen 21 Uhr wird das Licht gedimmt, auf der gestochen scharfen Riesenleinwand erscheint die Grafik eines Geräts zur Messung von Herzsequenz und Puls, dazu ertönen die entsprechenden sanften Herzklopfgeräusche. Die Band erscheint, kurz darauf der Star des Abends: James Blunt, glasklarer, perfekter Sound, großartig abgemischt und stimmungsvoll umgesetzt.

Artig singt das Auditorium mit, gleich zu Beginn werden Handytaschenlampen als Pendant zu einst verwendeten Feuerzeugen eingesetzt, vermutlich, um stimmungsvolle Lagerfeueratmosphäre zu schaffen, einige halten Händchen, Liebe liegt in der Luft.  

James Blunt (50) ist ein Poet mit einer unverändert süßen, zarten und jünglinghaften Stimme

Hört man genau hin, gibt es zwischen einigen Schmachtsongs auch Nummern voller Tiefe, manche Texte des mittlerweile fünfzigjährigen Poeten mit der unverändert süßen, zarten, jünglinghaften Stimme sind von hoher lyrischer Qualität und gehen tatsächlich ans Herz. Er setzt sich mit Dingen auseinander, reflektiert ehrlich. Zudem sind seine Zwischenansagen oft unterhaltsam und lustig. So sagt er, als er an sich und seiner makellosen Kleidung herabblickt: “New shoes, new jeans, but the same old fucking band.” 

Schaut man ins Wörterbuch, findet man für das englische Wort “Blunt” zahlreiche Bedeutungen: Flachschaber, Aufprallverletzung, Trauma, dickschalige Tellmuschel, Linsenkuppe, Kanüle, stumpfe Gewalt und Joint. Und schlagfertig ist er durchaus, etwa wie er unlängst auf einen Internet-Kommentar eines anonymen Skeptikers, der auf der Plattform X (einst Twitter) schrieb: “Kein Mensch kann James Blunt leiden”, wie folgt reagierte: “Das ist vollkommen richtig, ich habe alle 20 Millionen Alben selbst gekauft.” 

Das Image des Saubermannes mochte er noch nie, daher wagte er immer wieder kleine Fluchten, war beispielsweise Protagonist einer Reality-Show, wo er sich auf die Suche nach Europas besten privaten Bierbrauern machte und auf wirklich unterhaltsame Weise verschiedene Biersorten, Brauverfahren und Hopfensorten vorstellten und erklärten. Blunt war nach eigenen Aussagen auch deshalb perfekt geeignet für jenes Format, da er etliche Jahre in Tourbussen verbracht hatte, in denen das kalte Bier niemals ausging und er zudem als ehemaliger Soldat ordentlich etwas vertragen könne. Trotz bemerkenswerter Einschaltquoten wurde die Serie nach einer Staffel eingestellt. 

“You’re Beautiful” eroberte die Charts – Blunts Vater empfand jede Melodie als Krach

Mit seinem Welthit “You’re Beautiful” stürmte er nicht nur die britischen Charts, obgleich es in seinem Elternhaus kaum Verständnis für Musik gegeben hatte – sein Vater, ebenfalls Soldat, empfand jegliche Melodien als Krach. Der einzige CD-Player der Familie war im elterlichen Auto und sie besaßen nur drei CDs: den Soundtrack von American Pie und zwei Beach Boys-Alben.

Auf Wunsch des Vaters wurde James Hauptmann der britischen Gardekavallerie und war unter anderem 2002 Sargträger bei der Trauerfeier von Queen Mum. Während seiner Stationierung im Kosovo schrieb er im Schlafsack neben seinem Panzer liegend den Anti-Kriegs-Song “No Bravery”, in dem es heißt: “Hier stehen Kinder, die Arme in den Himmel ausgestreckt, Tränen trocknen ihren Gesichtern. Brüder liegen in flachen Gräbern, Väter sind spurlos verloren. Ich sehe keinen Mut, keine Tapferkeit mehr in deinen Augen. Nur Traurigkeit.”  

Ergreifend emotional

Ein weiteres emotional ergreifendes Werk ist seine Auseinandersetzung mit dem Tod seiner guten Freundin Carrie Fisher, der berühmten Prinzessin Leia Organa aus den Star-Wars-Filmen. Mit aufrichtiger Offenheit beschreibt er seine Trauer, seine Ohnmacht, sein Vermissen. Er versteht es, die Menschen emotional zu berühren, der anfängliche Eindruck der Soap Opera ist rasch verschwunden und weicht dem Gefühl von herzlicher Verbundenheit. 

Manchmal nippt er kurz an seiner Teetasse, die vermutlich Kamillentee enthält, und spricht er ein paar Sätze auf Deutsch, was daran liegt, dass sein Vater in seiner Jugend ein paar Jahre im westfälischen Soest verbracht hat, wo er auf dem zugefrorenen See hinter dem Elternhaus Schlittschuh lief und eine ganz besondere Verbindung zu Deutschland hat und eben auch ein paar Brocken sagen kann.

Ein authentisches, unaufdringliches Konzert. Wie eine Waschmaschine kurz vor dem Schleudergang. Wie die ersten Wellen nach einer Ebbe im gewaltigen Ozean. Bei klarer Sicht. Ohne Regen. Es herrscht keine Haigefahr. In der sanften Brandung steht ein charismatischer, strahlender Barde. Sein Name ist Blunt. James Blunt. 





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