Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen.

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Ob ich meine Stadt liebe? Ja, aber es ist eine kalte Liebe, keine heiße.

Ob ich meine Stadt liebe? Ja, aber es ist eine kalte Liebe, keine heiße.

Foto: Imago/Frank Sorge

Eigentlich habe ich mir vorgenommen, mich nie über die Entwicklung der Stadt zu ärgern. Ich gehe davon aus, dass ich selbst es nämlich bin, der der Ärger am stärksten wehtut. Mich nicht zu ärgern, ist aber ebenfalls wahnsinnig anstrengend geworden: Ich hänge im Limbo.

2024 ist ZORN in, und WUT out, sagt mein Freund M.

ZORN ist etwas Göttliches – bei WUT denkt man eher an WUTBÜRGER. Zorn ist ein ganz anderer politischer Antrieb als Wut, es geht dabei weniger um das Individuum, das dem System unterstellt »zu kurz gekommen zu sein«, es geht um etwas Größeres.

M. sagt: Die politische Haltung des »Jetzt bin ich mal dran« ist eine der gefährlichsten von allen.

Ich denke an rot angelaufene Gesichter, verdruckste Wut, die sich viel zu lange nach innen gewendet hat, und sich von dort ausbreitet, wie eine Krankheit. Zorn ist etwas viel Äußerlicheres, es geht um Radikalisierung, es geht um Bewegung, es geht um Mehr.

Das reicht noch nicht, da fehlt noch was.

Die Kreuzberger Oranienstraße sollte eigentlich eine Autobahn werden. Eine Stadtautobahn.

Es wurden Wohnblocks gebaut, entlang der antizipierten Fahrbahn. Der Oranienplatz sollte das Autobahnkreuz werden. Die Mietverträge waren mietpreisgebunden für 30 Jahre. Man ging davon aus, dass die Wohnungen unattraktiv waren, sie lagen ja an der Autobahn. Die Autobahn kam nie. Die Autobahn, die nie gekommen war, beschützte in ihrer Abwesenheit die Nachbarschaft für 30 Jahre. Und dann noch mal für 30 – die Verträge wurden von der Stadt verlängert. Ich will mir nicht ausmalen, was passiert, wenn die nächsten, die laufenden, 30 Jahre vorbei sind.

Die, wie man sagt, »Gentrifizierung« steht der Stadt nicht. Aber das gute Essen, das die Expats mitgebracht haben, gefällt mir. Zu Sourdough Pizza und cremigem Pistazieneis lasse ich mich gern hinreißen. Vor allem, wenn ich verkatert bin.

Trotzdem: Es steht der Stadt nicht, nicht mehr billig zu sein. Selbst das gute, bessere Essen, die Sourdough Pizza und das cremige Pistazieneis, schmecken hier nicht ganz so gut. Es gehört nicht hier hin.

In anderen Städten, Paris zum Beispiel, sind die Leute es gewöhnt, zu klauen. Ein Freund von mir hat sich riesige Taschen in die Innenseite seines Mantels genäht. Erwischt wird er manchmal, zur Anzeige kommt es nie. Seine Handtasche soll man nie an die Haken in den Toilettenkabinen hängen, sondern beim Pinkeln auf dem Schoß behalten – es gibt wohl Banden, die mit Haken an Besenstilen Handtaschen an Klotüren angeln, lerne ich.

Mein erster Job: Die Streichholzschachteln in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz mit den ikonischen Stickern bekleben. Und vorher andere Sticker ablösen. LSD, das Grafikbüro von B.N., war irgendwie im Clinch mit der aktuellen Grafikabteilung – nun mussten neue, andere Sticker auf die Schachtel, mit anderen, identisch aussehenden Räuberrädern drauf.

Ich dachte dabei an die Stundengebete der Mönche – Beten ohne Unterlass. Immer im Kreis durch den Kreuzgang, immer im Kreis um die Verkehrsinsel am Moritzplatz. Im Kreisverkehr strecke ich die Arme aus, ich habe immer ein bisschen Angst, überfahren zu werden.

Meine Kollegin an der Volksbühne kommt aus Bielefeld (das es ja, wie alle wissen, gar nicht gibt – die Bielefeld Verschwörung). Ihr fällt es schwerer, an dem kriegsschiffartig anmutenden Haus anzukommen. Meine marxistische Grundausbildung hilft mir: All that is solid melts into air.

Ein Freund fragt mich, ob ich meine Stadt liebe und ich sage:

Ja, aber es ist eine kalte Liebe, keine heiße.

Das Dramatische, so lerne ich, begründet sich auf der Annahme, dass Subjekte mit ihrem Handeln etwas auslösen, verändern können. Es gibt einen Konflikt zwischen mehreren Parteien und am Ende ist meistens mindestens eine der Parteien tot – ausgelöst durch die Handlung oder des Innehaltens einer der anderen Parteien.

Postdramatik ist pure Individualität. Bei Pollesch – hoffnungsvolle Ohnmacht, vergebliche, gefühlvolle Hingabe der spätkapitalistischen Subjekte (in einer deutschen Großstadt, die einmal in Ost und West geteilt war). Die Idee des Endes der Geschichte ist zu Ende gegangen.

Ich lerne: Melancholie ist die nostalgische Sehnsucht nach etwas, das es nie gab.

Ich lerne: Die romantischste Liebe ist die unerfüllte.

Vielleicht hat sich das »Das reicht noch nicht, da fehlt noch was«, das unendliche, halb-motivierte Im-Kreis-Rennen tatsächlich erschöpft – die Erschöpfung in eine Energy of Change transformiert.

Immer im Kreis, immer im Kreisverkehr, mit ein kleines bißchen Todessehnsucht. Und viel viel Gefühl.

Bei Tschechow, von dem ich meinen Namen habe, wird das Postdramatische schon eingeführt – aber auf Ebene der dramatischen Figuren. Eine Figur ist, zum Beispiel, schwerhörig. Das gibt den anderen Figuren die Möglichkeit, postdramatisch unzielgerichtet vor sich hin zu plaudern, eigentlich selbstreflexive Selbstgespräche zu führen, statt Sprache als Handlung zu gebrauchen.

»Am Ende geht es doch immer um Ökonomie«, sagt mein Freund P., der in New York lebt. »Es geht darum, ob du fließendes Wasser zu Hause hast und ob dein Müll entsorgt wird.«

Heutzutage kann man fast schon unsterblich werden. Aber nur, wenn man es sich leisten kann. Manchmal habe ich das Gefühl, meine Liebe zu Berlin ist nichts als Nostalgie. Und jetzt, wo René Pollesch nicht mehr da ist, ist das Gefühl noch viel stärker als vorher.

Aber: Das reicht noch nicht, da fehlt noch was.

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