FOCUS online: Frau Prof. Hellmann, die getöteten Frauen in Wien sind ein trauriger Anlass für dieses Gespräch und dafür, über das Thema Femizide zu sprechen.

Deborah Hellmann: Danke, dass Sie die Taten genauso benennen. Mein Eindruck: Mittlerweile geschieht das öfter. Ein guter Anfang. Früher hat man sehr viel häufiger Begriffe wie „Beziehungstat“ oder „Familiendrama“ gelesen. Das ist aus verschiedenen Gründen schwierig.

Aus was für Gründen denn?

Hellmann: Begrifflichkeiten wie „Drama“ oder „Tragödie“ stammen aus dem Theater. Neben dem verharmlosenden, sogar unterhaltenden Aspekt beinhalten die Bezeichnungen eine Mitschuld oder Teilverantwortung der getöteten Frau. Das muss aufhören.

Was also ist ein Femizid?

Hellmann: Die einfachste Definition von Femizid meint die Tötung einer Frau, weil sie eine Frau ist. Allerdings besteht dazu aktuell kein Konsens.

Was meinen Sie?

Hellmann: Unter Femizide fallen zum einen direkte Tötungen von Frauen aus sogenannten „misogynen Motiven“, also z. B. Frauenhass oder Verachtung. Zum anderen darf man auch von einer Art systematischer oder struktureller Gewalt sprechen, wenn Frauen grundsätzlich benachteiligt sind, beispielsweise in der Gesundheitsversorgung. Teilweise gehen die Auffassungen von Femiziden so weit, dass auch weibliche Opfer von Verkehrsunfällen als Femizide betrachtet werden. Eine derart weite Auslegung vertreten wir in unserem Forschungsprojekt nicht. Wir sprechen immer dann von einem Femizid, wenn eine Frau aufgrund ihres Geschlechts getötet wurde – wenn die Tat also gezielt gegen eine Frau gerichtet war und sie nicht zufällig Opfer wurde.

Zufällig?

Hellmann: So, dass es auch einen Mann hätte treffen können wie bei einem Verkehrsunfall. Häufig handelt es sich bei Femiziden um sogenannte Intimizide.

Was bedeutet das?

Hellmann: Das heißt, dass zwischen der getöteten Frau und der Tatperson eine Beziehung bestand. Manchmal handelt es sich bei den Opfern auch um Wunschpartnerinnen: Der Täter hat die Frau begehrt, diese hat die Annäherungen aber abgelehnt. Der Mann hat sich dann möglicherweise in seinem Stolz oder seiner Ehre verletzt gefühlt.

Drei der Getöteten in Wien waren Prostituierte. Laufen diese Morde auch unter dem Begriff Femizid?

Hellmann: Ich kenne die Hintergründe der Tat nicht, kann also nur mutmaßen. Grundsätzlich besteht jedoch sicherlich die Gefahr, das Gegenüber eher als Objekt und nicht als Individuum zu betrachten, wenn ich mir Sex erkaufe.

Worauf wollen Sie hinaus? Ein Prostitutionsverbot?

Hellmann: Nein. Was wir allerdings brauchen, ist ein Bewusstseinswandel in Sachen Rollenverständnis und Geschlechterwahrnehmung. Insgesamt gibt es ein viel zu geringes Bewusstsein dafür, unter welchen strukturellen Bedingungen es zu Gewalt gegen Frauen kommt.

Nämlich?

Hellmann: Es gibt ganz eindeutig eine strukturelle Benachteiligung von Frauen durch das patriarchale System. Ich weiß, das wird gerne weggelächelt, nach dem Motto „jetzt kommt schon wieder eine dieser streitbaren Emanzen“… Fakt ist aber: Frauen stehen in Deutschland in vielen Lebensbereichen schlechter da. Sie leisten mehr Care-Arbeit, werden im Job schlechter bezahlt, sind seltener in Führungspositionen anzutreffen.

Und was hat das jetzt mit Femiziden zu tun?

Hellmann: Wenn wir uns anschauen, was die Risikofaktoren für Femiziden sind, müssen wir ganz klar sagen, dass vorangegangene Gewalt ein bedeutsamer Risikofaktor ist: Nicht jede Androhung eines Femizids nach dem Motto „Wenn Du Dich trennst, bringe ich Dich um“ führt – glücklicherweise – zu einem Femizid beziehungsweise Intimizid. Aber in der Regel gehen Femiziden Drohungen voraus. Und in diesem Zusammenhang wird die Bedeutung der strukturellen Benachteiligung von Frauen deutlich: Je stärker ich finanziell von einem Mann abhängig bin, desto schwerer fällt es mir, mich aus einer Beziehung zu lösen. Erinnern wir uns an einen Fall in Berlin aus dem April 2022…

Was ist passiert?

Hellmann: Eine sechsfache Mutter hatte ihren Mann zweimal wegen unterschiedlicher Gewalttaten angezeigt. Unter anderem wurde ihr ein Platz in einem Frauenhaus angeboten, den sie aber nicht annehmen konnte, da ihre beiden ältesten Söhne sie dorthin nicht hätten begleiten dürfen. Kurz darauf wurde sie von ihrem Ex-Partner erstochen.

War es ein Fehler, dass das Frauenhaus die Frau nicht aufgenommen hat?

Hellmann: Das Problem war, dass es keinen Platz in einem Frauenhaus gab, in dem auch die älteren Söhne hätten untergebracht werden können. Dass die Mutter nicht einfach zwei ihrer Kinder zurücklässt, ist sicher nachvollziehbar. Es gab ganz einfach für die Betroffene keine pragmatische Möglichkeit, sich vor ihrem Mann in Sicherheit zu bringen. Es muss nicht nur genügend Plätze in Frauenhäusern und anderen Einrichtungen geben, sondern auch solche Plätze, die zur Lebensrealität der von Gewalt betroffenen Frauen passen. Noch mal: Abhängigkeit ist einer der Hauptgründe dafür, dass Frauen im sozialen Nahraum ein deutlich höheres Gewaltrisiko haben als Männer. Die Statistik spricht hier eine eindeutige Sprache. Im vergangenen Jahr ist fast jeden dritten Tag eine Frau in Deutschland von ihrem Partner oder Expartner getötet worden.

Was kann Frau tun, um sich zu schützen? Die Tötungsdelikte scheinen beim Femizid ja einer Art Muster zu unterliegen.

Hellmann: Das ist richtig – und doch finde ich Ihre Frage verkehrt formuliert. Wir möchten weg vom Blick darauf, was Frauen angeblich vermeiden sollen…

Hin zu?

Hellmann: Einer Gesellschaft, die den Blick vom Opfer zum Täter wendet. Der Frau, die im Rahmen eines Femizids zu Tode gekommen ist, kann ich nicht mehr helfen. Ich kann mir aber anschauen, was vielleicht zu dieser Gewalt geführt hat. Inwiefern ist Gewalt – körperlich oder auch verbal – für einige Menschen noch immer ein legitimes Mittel, um Konflikte zu lösen? Was bekommen schon kleine Jungen möglicherweise in den Familien und anderen Sozialisationsinstanzen mitgegeben? Werden Jungen und Mädchen wirklich gleich behandelt und in Konfliktlösungsmöglichkeiten geschult? In diesem Zusammenhang ist immer wieder zu betonen, dass Gewalt in allen sozialen Schichten vorkommt.

Gewalt gegen Frauen finden wir quer durch die Gesellschaft?

Hellmann: So ist es. Sie kommt in der Villa genauso vor wie im Block. Reflektierte, selbstbewusste Menschen sind der beste Schutz vor struktureller und direkter Gewalt – sowohl auf Seiten der Tatpersonen als auch auf Seiten der Betroffenen. Das Problem lässt sich nur gesamtgesellschaftlich lösen.

Inwieweit hilft Ihre Studie dabei?

Hellmann: Für eine genaue Analyse der Situation und für entsprechende Folgerungen müssen wir erst mal wissen, worüber wir reden. Wie viele Femizide gibt es? Das ist für Deutschland bisher noch nicht systematisch erhoben worden. Das BKA veröffentlicht jährlich Daten zur Partnerschaftsgewalt und zu Intimiziden, aber das sind eben nicht alles Femizide, teilweise hat keine Vorbeziehung bestanden. Auch verschiedene Aktivist*innen erheben die Zahl bekannt gewordener Femizide (z. B. die Instagram-Seite @femizidestoppen). In unserem Forschungsprojekt schauen wir noch etwas systematischer hin und versuchen, in ausgewählten Bundesländern alle bekannt gewordenen Tötungen von Frauen zu erfassen und beispielsweise hinsichtlich der Tatmotive auszuwerten.





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