Die Schriftstellerin Anne Rabe (37) hat mit ihrem Bestseller „Die Möglichkeit von Glück“ im vergangenen Jahr eine Debatte über die langen Linien von Gewalt von Institutionen und in Familien in Ostdeutschland angestoßen. In dieser Woche spricht sie unter anderem zum Internationalen Frauentag im Bundeskanzleramt.

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Frau Rabe, der aktuelle Aufstand der Zivilgesellschaft gegen den Rechtsruck wird vielerorts von Frauen getragen. Ganz platt gefragt: Retten die Frauen die Demokratie, nicht nur im Osten?

Rabe: Das wäre natürlich schön. Aber ich möchte mit den Widersprüchen beginnen: Es gibt einen ostdeutschen Mythos, der sehr positiv besetzt ist. Das ist der Mythos der selbständigen, emanzipierten Ostfrau, die natürlich arbeitet und die Kinder nebenher erzieht, die sich auch schnell scheiden lässt, wenn es nicht mehr so läuft. Wie viel das mit der Realität zu tun hat, muss hinterfragt werden. Sicher ist: Dieser Mythos ist Teil einer ostdeutschen Identität. Aber zugleich ist die AfD mit ihrer eindeutig frauenfeindlichen und anti-emanzipatorischen Politik hier besonders erfolgreich. Männliche Politiker wie Björn Höcke und Tino Chrupalla propagieren ein sehr traditionelles Frauenbild, das es gerade im Osten kaum noch gibt. Die Frauen sollen zurück an den Herd und die einheimische Kinderproduktion ankurbeln.

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Wie ist das möglich?

Eine wirkliche Emanzipation ist ohne Sprechen über Gewalt gar nicht möglich. Und in Ostdeutschland hat das Schweigen über Gewalt eine lange Tradition, die bis heute nachwirkt. Das mag eine Erklärung sein dafür, dass gerade eine so anti-emanzipatorische Bewegung von Rechts so erfolgreich sein kann in Ostdeutschland. Die Demonstrationen gegen den Rechtsruck, das muss man feststellen, haben im Osten bisher keinen Einbruch der Zustimmung zur AfD zur Folge. Das ist nicht verwunderlich: Die Akzeptanz von Rechtsextremismus in Ostdeutschland ist schon seit Jahrzehnten vorhanden. Zurzeit erleben wir, wie die Kinder der rechtsextremen Generation der Baseballschlägerjahre der 1990er und 2000er in die Fußstapfen ihrer Eltern treten. Es ist vielerorts dieselbe Aggressivität spürbar. Dabei ist die Zeit eine ganz andere. Damals war der Osten von Niedergang, Existenzängsten und den Zumutungen von Hartz IV geprägt, jetzt geht es den meisten Menschen wirtschaftlich eher gut und Ostdeutschland hätte alle Chancen, wenn nicht der Arbeitskräftemangel und die Abwehr gegen Zuwanderung wäre. Die Rechtsextremen sind eben gefestigter Teil der kleinstädtischen und dörflichen Gemeinschaft. Auf dieses Fundament baut die AfD auf. Viele Jahre galt: Wenn die Zivilgesellschaft in Ostdeutschland erfolgreich ist, dann ist sie rechts. Das ändert sich jetzt vielleicht gerade.

Bei meinen Lesungen habe ich oft erlebt, wie deprimiert und hoffnungslos gerade die Jüngeren oft sind, weil diese rechte Kultur so dominant ist, dass sie lieber geschwiegen haben als über politische Themen zu sprechen.

Sie fahren regelmäßig zu den Demonstrationen nach Bautzen, das eine Hochburg der rechtsextremen Szene ist. Dreht sich dort etwas?

Es ist auf jeden Fall nicht nichts, was dort und anderswo passiert. Es ist eine Möglichkeit für die nicht rechten Teile der Zivilgesellschaft, überhaupt Mut zu fassen, überhaupt wieder als gesellschaftlich relevante Gruppe wahrgenommen zu werden. Bei meinen Lesungen habe ich oft erlebt, wie deprimiert und hoffnungslos gerade die Jüngeren oft sind, weil diese rechte Kultur so dominant ist, dass sie lieber geschwiegen haben als über politische Themen zu sprechen. Das könnte sich jetzt ändern.

Kann dieser mögliche Umschwung einen Einfluss auf die Landtagswahlen haben?

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Die Rechtsextremen, die überzeugten AfD-Wähler, wird man bis zum September nicht umgestimmt kriegen. Das wird sich eher verhärten. Aber die AfD hat in den vergangenen Jahren vor allem von früheren Nichtwählern profitiert. Vielleicht schaffen es jetzt die anderen Parteien, bisherige Nichtwähler davon zu überzeugen, dass es wichtig ist, zur Wahl zu gehen. Diese vielen Demos in Ostdeutschland gäbe es nicht ohne die großen Demos in den Großstädten im Westen. Die sind schon ganz entscheidend. Zum ersten Mal entsteht eine gesamtdeutsche Bewegung auf der Straße. Das gab es in den letzten 30 Jahren nie so richtig. Fridays for Future hat sich nie richtig im Osten etabliert, Pegida und die späteren Montagsdemos blieben ein ostdeutsches Phänomen.

SPD-Politiker nach Brandanschlag: „Jetzt lege ich ein Messer auf mein Nachtschränkchen“

„Da wollte jemand töten“, glaubt Michael Müller. Unbekannte setzten das Haus des SPD-Politikers im thüringischen Walterhausen in Flammen. Zu Besuch in einer Kleinstadtidylle, in der sich die Stimmung krass verschlechtert hat.

Sie werben dafür, dass mehr Menschen wie Sie aus den großen Städten in Orte wie Bautzen kommen, um die Demonstrierenden dort zu unterstützen. Was soll das bringen?

Man hilft damit Menschen und Initiativen, die seit vielen Jahren auf sich allein gestellt sind. Die nicht davon ausgehen können, dass die Polizei ihnen hilft, wenn sie wieder einmal von Rechtsextremen bis nach Hause verfolgt werden. Menschen, die sich freuen, wenn sich jemand für sie interessiert.

Wie lange werden die Demonstrationen noch weitergehen – und was folgt danach?

In den kleinen Städten wird der Ton rauer und die Übergriffe der Rechten nehmen zu. Die sehen ihre Hegemonie gefährdet und fühlen sich angegriffen. Die nehmen das nicht so einfach hin. Als ich das letzte Mal in Bautzen war, haben mich einige Neonazis bis zum Auto verfolgt – und ein einziger Polizist ging neben ihnen her, griff aber nicht ein. Die Frage wird sein: Steht die Gesellschaft bundesweit dann auch noch hinter den Protesten oder lässt man den Osten wieder allein? Wenn es keinen Schutz gibt, werden die Proteste in Ostdeutschland wieder einschlafen. Weil diejenigen, die sich seit Jahren nicht getraut haben, auf die Straße zu gehen, dann erneut eingeschüchtert sind. Vielleicht kam die große Bewegung jetzt zu früh. Es ist noch lange hin bis zur Wahl. Wir erleben die Anfänge von Terror. Und gegen diesen Terror müssen die Behörden einschreiten.

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Demokratie-Radar

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Was muss gegen die Bedrohungen getan werden?

Die Innenministerinnen und Innenminister müssen mit einer ganz klaren praktischen Handlungsanweisung an die Polizei reagieren. Nicht nur Politikerinnen und Politiker müssen in den kommenden Wahlkämpfen besser geschützt werden, sondern auch zivilgesellschaftliche Akteure. In den kleinen Städten vermittelt die Polizei durch ihre geringe Präsenz immer wieder den Eindruck an die Rechten: Ihr könnt hier relativ viel machen, wir legen uns nicht mit euch an. Die rechte Gewalt wird in diesem Wahljahr weiter zunehmen, da bin ich mir sicher. Und dagegen müssen die Behörden stärker vorgehen.

In Ihrem Buch „Die Möglichkeit von Glück“ beschreiben Sie die langen Linien der Gewalt vom Nationalsozialismus über die DDR bis in die Nachwendezeit im öffentlichen und privaten Umfeld. Wie sehr wirkt das immer noch nach?

Alles, was nicht öffentlich besprochen wird, nicht aufgearbeitet ist, wirkt im Untergrund weiter. Es gibt gerade in meiner Generation das Bedürfnis, diese Gewaltgeschichte aufzuarbeiten und zu benennen. Und was ich auf den Lesungen erlebe, ist, wie mühsam es ist, dieses Schweigen zu durchbrechen. Aber es kommt immer häufiger vor, dass auch Menschen aus meiner Elterngeneration jetzt häufiger sagen: Ach, jetzt haben wir verstanden, was wir mit unseren Kindern gemacht haben, welche Gewalt wir weitergegeben haben. Ich streite dafür, dass man den Opfern der SED-Diktatur mehr Raum gibt, dass sie nicht nur in eine ostdeutsche Nische gehören, sondern als wichtiger Teil der deutschen Geschichte wahrgenommen werden.

Anne Rabe liest am 5. März, 19 Uhr, im Literaturhaus Halle (Saale) und zum Internationalen Frauentag am 8. März, 19 Uhr, im T-Werk in Potsdam.



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