Ihr Platz im Leben – das waren die Schatten. Als die 21-jährige Hedwig Hensel am 17. August 1929 den sieben Jahre älteren Rudolf Höß heiratete, ordnete sie sich einem kriminellen Heißsporn der aufstrebenden Nazi-Bewegung unter. Höß war erst ein Jahr zuvor aus dem Gefängnis entlassen worden, wo er fast fünf Jahre wegen eines von ihm begangenen Fememordes an einem Kameraden des Freikorps Roßbach gesessen hatte. Wegen schwerer Körperverletzung und vollendeten Totschlags war Höß ursprünglich zu 10 Jahren Haft verurteilt, wurde aber begnadigt.
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Hedwig Hensel und Rudolf Höß kannten sich vom Bund der Artamanen, einer spleenig-völkischen Landbesiedlungsbewegung mit einer germanisch-esoterischen Mission. Auf den gemeinsamen Nachmittagen wird es aber nicht nur um das Ausbringen altgermanischer Gerstensorten und das Erbitten um Wotans Segen gegangen sein, denn zum Zeitpunkt der Heirat war die hübsche, aber wenig selbstbewusste Hedwig bereits schwanger – mit Klaus, dem 1930 auf ihren neu erworbenen, pommerschen Gut Sallentin geborenen ersten Sohn des Paares.
SS-Offiziere in Solahütte, einem Erholungsort für die Wachmannschaften, Von links nach rechts: SS-Arzt Josef Mengele, Rudolph Höß, Josef Kramer und Karl Höcker.
Quelle: picture alliance / World History Archive
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Mit Himmler und Hedwig im „Bund der Artamanen“
Im Bund der Artamanen hatte Höß auch den nur ein Jahr älteren Heinrich Himmler kennengelernt, zu diesem Zeitpunkt längst ein „Star“ in der Nazi-Bewegung. Der Münchner hatte bereits 1923 am gescheiterten Hitler-Ludendorff-Putsch teilgenommen und schaffte es 1929 zum „Reichsführer-SS“, dem uneingeschränkten Herrscher über die kleinere der beiden Parteimilizen, die Himmler kontinuierlich zur innerparteilichen Konkurrenz der bereits damals Zehntausende Mitglieder zählenden SA aufbaute.
Himmler hatte teuflische Pläne, die er nach der Machtergreifung der Nazis 1933 und nach der Entmachtung der „braunen Volksarmee“ SA 1934 endlich umsetzen konnte – und dafür brauchte er Männer wie Höß.
Höß machte im Nazi-Sicherheitsapparat schnell Karriere – zunächst im Konzentrationslager Sachsenhausen, ab Mai 1940 in einem neu eingerichteten Lager in der polnischen Kleinstadt Oświęcim (dt. Auschwitz), zwischen dem deutschen Kattowitz und dem polnischen Krakau gelegen. Aus Höß, dem verurteilten Totschläger und Söldner, wurde die Bestie von Auschwitz, Herr über den Tod von über einer Million Menschen.
Hedwig Höß, stets im Schatten ihres Mannes, sah ihre Aufgabe vor allem darin, ihm weitere Kinder zu schenken: Heidetraut, Ingebrigitt, vom Vati „Püppi“ genannt, Hans-Jürgen, Annegret. Die Familie bezog die kurz vor Kriegsbeginn fertiggestellte Dienstvilla eines polnischen Offiziers, ein Idyll im Schatten der Hölle, direkt neben den Wachtürmen und Zäunen am nordöstlichen Rand des Stammlagers Auschwitz.
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„Rudolf nennt mich die Königin von Auschwitz“, erzählte Hedwig eines Tages ihrer aus Berlin angereisten Mutter Linna. Diese wiederum staunte über den „Paradiesgarten“, in den Hedwig all ihre Liebe steckte – zusätzlich zu der Arbeitskraft der aus dem KZ abkommandierten polnischen Gärtner und Landschaftsarchitekten.
Ärger gab es, wenn forsche SS-Leute Blüten aus den Fliederbüschen des „Paradiesgartens“ rupfen, dann schritt der Chef persönlich ein, „sonst bluten ja die armen Pflanzen aus“, begründete Höß.
„Meine Familie hatte es in Auschwitz gut. Meine Frau hatte ihr Blumenparadies. Immer hatten die Kinder im Garten besonderes Viehzeug, stets gab es etwas Interessantes“, so Höß in seinen Memoiren, die er später in polnischer Haft kurz vor seiner Hinrichtung verfasste.
Streichelzoo im Schatten der Auschwitzmauer
Tatsächlich lebten die Höß-Kinder im Haus mit Garten wie in einem Streichelzoo – mit Hund, Katzen, Kaninchen. Höß eilte der Ruf voraus, ein Tierfreund zu sein, während seine Frau vor allem Blumen liebte, zudem die Obstbäume und Gemüsebeete, das Gewächshaus.
Rainer Höss, ein Enkel des Auschwitz-Kommandanten mit bewusst anderer Schreibweise des Namens, bekannte jüngst in einem Buch, dass die Asche der Toten im Garten als Dünger verwendet wurde. „Kinder, wascht die Erdbeeren ab, wegen der Asche“, soll Hedwig Höß laut Leopold Heger gesagt haben, dem Chauffeur des Kommandanten.
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Für den Haushalt wählte das Paar bevorzugt Zeugen Jehovas, da sie diese als ehrlich und friedlich einschätzten. Etwa 15 bis 20 weitere Häftlinge leisteten Zwangsarbeit – als Gärtner, Köche, Fahrer, Friseurinnen, Schneider und Kinderfrauen. Gefangene bauten den beiden Jungen ein Holzflugzeug und schoben sie darin durch den weitläufigen Garten mit Teich, beaufsichtigten sie und die Nachbarskinder beim Planschen im Becken.
Das Originalhaus der Familie Höß, direkt am Lagerzaun des Konzentrationslagers Auschwitz.
Quelle: picture alliance / NurPhoto
Die Bedingungen waren vergleichsweise gut, stellten für die Häftlinge aber keine Überlebensgarantie dar. Höß’ Schwager Gerhard Fritz Hensel, der seine Ferien bei der Familie des Lagerkommandanten verbrachte, berichtet von der Erschießung eines Gärtners durch den Sicherheitsdienst der SS. Ebenso berichtet eine Historikerin, dass sich die Ehefrau eines Kommandeurs über eine schlecht ausgeführte Reparatur eines Häftlings beschwerte, der dann umgehend ermordet wurde.
Weil sich Hedwig Höß in ihrer Rolle als „Königin von Auschwitz“, Mutter und Hobbygärtnerin offensichtlich irgendwann unterfordert fühlte, betrieb sie die „Obere Nähstube“, eine Schneiderei, wo elegante Kleidung für hochrangige Nazi-Funktionäre entstand.
„Vati war streng, wenn es um Etikette ging“, so Tochter Ingebrigitt Höß später hochbetagt im „Stern“. Am Esstisch durften die Kinder nur sprechen, wenn sie gefragt wurden. „Aber er war nie böse. Er hat am Tisch auch erzählt, so Familiensachen und was wir am Wochenende für Ausflüge unternehmen. Aber nie etwas von nebenan, da haben wir nie etwas gewusst. Never.“
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Familie Höß, Vater Rudolf Höß, Lagerkommandant, daneben der älteste Sohn Klaus, vorn Heidetraut (r.), Ingebrigitt, (l.), Hans-Jürgen und Mutter Hedwig mit dem jüngsten Töchterchen Annegret.
Quelle: Archiv
Es ist die eine Frage, die jedem, der darüber nachdenkt, schier zur Verzweiflung bringt: Ist es möglich, dass eine junge Mutter und ihre fünf Kinder in direkter Nachbarschaft zur teuflischsten Tötungsfabrik der Menschheitsgeschichte lebten, sich an Blumen und Tieren erfreuten – und vom Grauen nichts mitbekamen?
Dem Gerichtspsychologen Gustave Gilbert erzählte Höß in Nürnberg, seine Frau habe sehr wohl geahnt, was er tat. Eines Tages soll Hedwig Höß gehört haben, wie Fritz Bracht, der Gauleiter von Schlesien, mit Höß über die Vorgänge im Lager sprach. Fortan verweigerte sie angeblich den Beischlaf.
Ohnehin muss es Hedwig Höß große Mühe gekostet haben, nichts von den Vorgängen im Konzentrationslager mitzubekommen. Ihr Mann erklärte 1946 bei den Nürnberger Prozessen, „der faule und Übelkeit erregende Gestank“, der von der ununterbrochenen Verbrennung getöteter Menschen ausging, habe die ganze Gegend durchdrungen.
Die Kinder spielen Häftlinge mit Judensternen
Die Schneiderin Janina Szczurek berichtete nach dem Krieg, die Höß-Kinder hätten sie einmal gebeten, ihnen bunte Dreiecke zu nähen, wie sie die Häftlinge trugen. Dann spielten sie Gefangene, und Klaus, der älteste Höß-Sohn, schlüpfte in die Rolle des „Kapos“, des Funktionshäftlings. „Die Kinder waren sehr zufrieden, tobten im Garten und stießen dort auf ihren Vater, der ihnen die Abzeichen abriss und die Kinder ins Haus brachte.“
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Mit ihrem Spiel drohten die Kinder offenbar, die künstliche Trennmauer einzureißen, die Rudolf Höß zwischen Privatidyll und brutalem Dienst gezogen hatte. „Vati wurde sehr böse, weil wir was falsch gemacht hatten“, erinnert sich Ingebrigitt Höß im „Stern“. „Er schimpfte mit uns und sagte, wir dürften nie böse zu anderen Menschen sein.“
Fest steht, dass sich Hedwig Höß wie auch die anderen Funktionärsfrauen bereicherten. Die Häuser des Wachpersonals waren mit feinen Möbeln, Kunstwerken und anderem Diebesgut der Gefangenen ausgestattet worden. „Die Kinder der Familie und die Ehefrau trugen Kleider von Menschen, die ihr Mann und Vater vergast hatte“, wie die Historikerin Anna-Raphaela Schmitz vom Institut für Zeitgeschichte anlässlich der im der Reihe „Obersalzberger Gespräch“ laut dem Berchtesgadener Anzeiger im März 2019 sagte.
Vor 100 Jahren gestorben: Lenin, das Mastermind moderner Populisten
In Marmor, Bronze oder Granit verewigt steht er noch in Städten wie Schwerin, Riesa und Wünsdorf: Wladimir Iljitsch Uljanow, Kampfname Lenin, der vor 100 Jahren gestorben ist. Für den Historiker Jörg Baberowski war Lenin ein Massenmörder, der keine romantische Verklärung verdient.
Im Juli 1944 verließ die Familie Auschwitz, Höß war bereits zuvor von seinem Posten entbunden worden, für kurze Zeit wurde er Lagerkommandant in Ravensbrück an der Havel im heutigen Bundesland Brandenburg. Zur endgültigen Flucht und der Trennung von der Familie kam es im Mai 1945, sie folgten der sogenannten Rattenlinie nach Flensburg, dem nach der Niederlage für Wochen besatzerfrei verblieben Restgebiet des einstigen Nazi-Reiches.
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Während Hedwig und die fünf Kinder in einer alten Zuckerfabrik in der Dithmarscher Gemeinde St. Michaelisdonn ausharrten, verschaffte sich Höß unter dem Namen „Franz Lang“ als Maat der Marine an der Marineschule Mürwik eine neue Identität. Kurze Zeit später verwandelte sich „Franz Lang“ in eine landwirtschaftliche Hilfskraft auf einem Bauernhof in Gottrupel im Flensburger Umland.
Hedwig und ihr ältester Sohn Klaus, damals 15, wurden verhaftet und wochenlang von den Nazi-Jägern der britischen Field Security Section verhört. Ihr Mann galt längst als einer der meistgesuchten Kriegsverbrecher.
Nürnberger Prozesse. Der ehemalige Kommandant des KZ Auschwitz Rudolf Höß auf dem Nürnberger Flugplatz (1946).
Quelle: picture alliance / brandstaetter images/Votava
Als Rudolf Höß am 11. März 1946 in Gottrupel nahe der dänischen Grenze verhaftet wurde, ließen die Briten Hedwig und ihren Sohn gehen. Höß zeigte sich aussagewillig, hatte beim Nürnberger Prozess als Zeuge der Verteidigung des NS-Kriegsverbrechers Ernst Kaltenbrunner einen letzten öffentlichen Auftritt, wurde anschließend an Polen ausgeliefert und starb dort am Galgen. „Ich, der ich von Natur aus weich, gutmütig und stets hilfsbereit war, wurde zum größten Menschenvernichter, der kalt und bis zur letzten Konsequenz jeden Vernichtungsbefehl ausführte“, reflektierte er in einem Abschiedsbrief an seine Frau, die „liebe gute Mutz“.
Um Hedwig wurde es ruhig
Um Hedwig Höß wurde es ruhig. Die junge Bundesrepublik verordnete sich selbst Sprachlosigkeit über das Grauen, das sich zunächst nur in Schemen abzeichnete. Zahllose unbestrafte Täter lebten im Land, so dass niemand den Familienangehörigen der bereits abgeurteilten Massenmörder Aufmerksamkeit schenkte. Eine Atempause für Hedwig Höß, die ehemalige „Königin von Auschwitz“, die sich mal wieder im Schatten einrichtete.
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Doch damit war es bald vorbei. Man zwang sie, in die Öffentlichkeit zu treten, als sie 1964 im Auschwitz-Prozess, dem ersten großen deutschen Verfahren zur Aufarbeitung der Shoah, maßgeblich möglich gemacht vom hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, als Zeugin geladen war.
In den Medien wurde sie, trotz ihrer erst 57 Jahre, als gebeugte, alte Frau beschrieben, die auf die Fragen der Staatsanwalt nur selten in vollständigen Sätzen antwortete. Wer den Ton- oder Schriftdokumenten folgt, liest oder hört aus dem Mund von Hedwig Höß vor allem Phrasen wie „Ich kann es nicht sagen“, „Ich weiß es wirklich nicht“, „Namen sagen mir nichts“.
Ihren Lebensabend verbrachte sie in Nähe ihrer Tochter Heidetraut in Stuttgart. Auch Klaus, der Erstgeborene, lebte zunächst dort, war aber auf der Flucht vor dem Fluch des Namens nach Australien ausgewandert, wo er 1986 alkoholkrank verstarb. Hans-Jürgen, der jüngere Bruder, brach früh jeden Kontakt zur Familie ab, wurde ein Zeuge Jehovas. Von ihm fehlt jede Spur.
Ein namenloser Grabstein in Arlington, USA
Regelmäßig reiste Großmutter Hedwig in die USA, wo ihre Tochter Ingebrigitt, nunmehr Brigitte, in Arlington im US-Bundesstaat Virginia in unmittelbarer Nachbarschaft der Familie Clinton lebte. Sie hatte als junges Mädchen in Spanien einen amerikanischen Ingenieur kennen und lieben gelernt, gründete mit ihm eine Familie.
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Bei den damals noch nötigen Einreiseformalitäten verschwieg Hedwig regelmäßig ihre dunkle Vergangenheit. Sie schien die Anonymität Amerikas gemocht zu haben, denn oft blieb sie lange, betreut ihre beiden Enkelkinder.
Im Herbst 1989 reiste sie ein letztes Mal nach Virginia. Es waren die Wochen vor dem Mauerfall, das alte Europa stand am Scheideweg. Im September 1989 starb sie im Gästezimmer ihrer Tochter. Ihre letzte Ruhe fand die ehemalige „Königin von Auschwitz“ auf dem örtlichen Friedhof von Arlington, in einem namenlosen Grab, auf dem lediglich „Mutti“ steht.
Das eisige Schweigen der Familie Höß über die monströsen Taten des Auschwitz-Kommandanten – erst nach Hedwigs Tod brach es allmählich. „Am Anfang habe ich auch gedacht: Das kann doch nicht sein!“, so die 2023 gestorbene Tochter Ingebrigitt 2015 im „Stern“. Aber je mehr über die ungeheuerlichen Verbrechen bekannt wurde, desto schwieriger wurde es, sie zu ignorieren. Bilanz ihres Lebens als Tochter, die vor dem Fluch des Namens Höß bis nach Virginia floh: „Es hört nie auf.“