Es gibt Schauspielerinnen, die einfach nur ihre Rollen spielen. Mehr interessiert sie nicht, das ist ja auch ihr Job. Es gibt aber auch Schauspielerinnen, die sich fürs große Ganze verantwortlich fühlen. So wie Sandra Hüller.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Als die 45-Jährige im Dezember auf die Bühne stieg, um den Europäischen Filmpreis für das Gerichtsdrama „Anatomie eines Falls“ entgegenzunehmen, wandte sie sich ans Publikum: „Stellen Sie sich bitte für einen kurzen Moment eine friedliche Welt vor.“ Und dann bat sie die 1000 Galagäste, kurz zu schweigen. Nichts daran wirkte aufgesetzt.

Die meisten Kollegen und Kolleginnen bescheiden sich bei solchen Trophäen-Abholungen mit einem gerührten Dank ans Filmteam und vielleicht noch an die eigene Mutter. Wie kam Hüller auf diese Idee? „Ich hatte mich gefragt, wie sich diese Welt, in der gerade ein Krieg im Nahen Osten ausgebrochen war, verbinden lässt mit dem Feiern von Filmen“, sagt sie. „Für mich war diese Bitte ganz selbstverständlich.“

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Aus der Aktion lassen sich Rückschlüsse auf ihre Art zu arbeiten ableiten: „Ich bin eine Partnerin, eine Kollaborateurin. Die Regisseure und Regisseurinnen, mit denen ich zu tun habe, begreifen Film als Gemeinschafts­arbeit. Sollte dem ausnahmsweise mal nicht so sein und jemand sagt, du machst das so und so, dann ist das nicht unser gemeinsamer Film.“

Dann würde Hüller nach eigenen Worten aussteigen: „Ich glaube sowieso, dass es im Leben immer möglich sein muss, wegzugehen.“

Ausgezeichnet: Sandra Hüller bei der Preisverleihung in Paris.

Ausgezeichnet: Sandra Hüller bei der Preisverleihung in Paris.

Hüller sitzt in einem Hotel in Berlin. Dies ist nicht ihr erstes Gespräch mit dem Redaktions­Netzwerk Deutschland (RND), aber jetzt ist die Schauspielerin zwischen lauter Ehrungen kaum noch zu erwischen. In London war sie beim britischen Filmpreis dabei (und gewann nicht), in Paris beim französischen (und gewann). Zwischendurch schaute sie in Los Angeles beim Lunch für die Oscarnominierten vorbei. Sie konkurriert mit den Kolleginnen Lily Gladstone („Killers of the Flower Moon“), Carey Mulligan („Maestro“), Emma Stone („Poor Things“) und Annette Bening („Nyad“) um die Trophäe für die beste weibliche Hauptrolle.

In Hollywood kann Hüllers Erfolgsstory am 10. März ihren Höhepunkt erleben. Ihre beiden aktuellen Werke stehen im Rennen um den wichtigsten Kinopreis der Welt, nicht nur „Anatomie eines Falls“, sondern ebenso das NS-Drama „The Zone of Interest“ (seit Donnerstag im Kino).

Das Stream-Team

Die besten Serien- und Filmtipps für Netflix und Co. – jeden Monat neu.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Um das mal historisch einzuordnen: Vor Hüller gab es erst eine einzige deutsche Schauspielerin, die den Oscar gewann: 1937 und 1938 holte sich die in Düsseldorf geborene Schauspielerin Luise Rainer gleich zwei Statuetten in Folge (für die Filme „Der große Ziegfeld“ und „Die gute Erde“).

Hüller ist nicht die einzige deutsche Hoffnung. Auch zwei Regisseure haben es beim Auslands­oscar in die Endrunde geschafft. İlker Çatak ist mit „Das Lehrerzimmer“ über eine junge Pädagogin in Nöten für Deutschland am Start. Wim Wenders tritt mit seinem Spielfilm „Perfect Days“ über einen Toiletten­reiniger in Tokio kurioserweise für Japan an. Die Sensation aber ist Sandra Hüller – und das nicht nur aus deutscher Sicht.

Schauspielerin mit großer Bandbreite

Im Drama „Anatomie eines Falls“ erzählt die französische Regisseurin Justine Triet von einer Ehefrau und Mutter unter Mordverdacht. Der Brite Jonathan Glazer zeigt Hüller in „The Zone of Interest“ als Gattin Hedwig des KZ-Kommandanten Rudolf Höß. Die Filme repräsentieren die Bandbreite Hüllers: hier die Schriftstellerin, die als Angeklagte selbstbewusst auftritt, dort die empathielose NS-Täterin, deren Familien­glück auf dem Massenmord in Auschwitz gründet. Beide Filme sind nominiert in der Königs­kategorie als bester Film.

Die französische Regisseurin Justine Triet (links) mit Sandra Hüller.

Die französische Regisseurin Justine Triet (links) mit Sandra Hüller.

Triet schrieb Hüller die Rolle auf den Leib. Die Schauspielerin selbst sagt über ihren Part: „Das ist eine moderne Frauenfigur, frei von Klischees. Das Thema Erfolg und Misserfolg in Beziehungen und das Macht­gefälle zwischen den Partnern habe ich so noch nicht gesehen.“ Eines will Hüller auf keinen Fall: sich wiederholen.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

In „The Zone of Interest“ erfreut sich Hedwig Höß in Wollsocken und mit Zöpfen an den Rosen in ihrem Garten. Er grenzt direkt an die Mauer des Konzentrations­lagers. Die Schreie der Gemarterten schallen herüber. „Königin von Auschwitz“ lässt sich diese schwerfällig-derbe Frau von ihrem Mann Rudolf (gespielt von Christian Friedel) nennen, der sich täglich müht, die Effizienz des Tötungs­maschinerie zu steigern.

Beim Festival in Cannes gewannen die Kinodramen im vorigen Mai die wichtigsten Preise. Hüllers Ruhm drang bis in die USA. Das wichtige Branchen­magazin „Hollywood Reporter“ schrieb auf der Titelseite: „Sandra Hüller, Schauspielerin des Jahres?“ Inzwischen dürfte die Frage beantwortet sein.

Vergleiche mit US-Star Cate Blanchett werden gezogen, was mit Hüllers hohen Wangen­knochen und den rotblonden Haaren zu tun haben dürfte. Assoziationen an die kühle Französin Isabelle Huppert liegen nahe. Vielleicht muss man Hüller aber gar nicht vergleichen.

Innere Unabhängigkeit geht ihr über alles

Die 45-Jährige ist eine Angstfreie, die spielerisch voll ins Risiko geht und um Wahrhaftigkeit in jeder Rolle ringt. Wer mit ihr spricht, spürt sofort, dass ihr innere Unabhängigkeit über alles geht.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Gleichzeitig stellt sie sich in den Dienst ihrer Filme. „Es gibt unterschiedliche Vorstellungen von diesem Beruf. Ich persönlich finde, dass Eitelkeit mich davon abhält zu arbeiten.“

Das deutsche Kinopublikum kennt Hüllers Furchtlosigkeit spätestens seit „Toni Erdmann“: Hüller verkörperte die karriere­beflissene Unternehmens­beraterin Ines, die von ihrem brachial­humorigen Alt-68er-Vater mit Partygebiss (der verstorbene Peter Simonischek) heimgesucht wird. Die berühmteste Szene des Komödienhits von 2016: die Nacktparty.

In einem Verzweiflungs­akt öffnet Ines gänzlich unbekleidet die Tür. Beim Anziehen ihres viel zu engen Edelkleides ist sie gescheitert. Den Kolleginnen und Kollegen erzählt sie, dies sei eine Teambuilding-Aktion und Ausziehen Pflicht. Die Sache gerät zu einem grandiosen Fremdschäm­spaß – und zu einem Beleg für Hüllers These: „Ich weiß inzwischen, dass ich keine konventionellen Komödien spielen kann. Ich kann nur verzweifelte Leute spielen, die Fehler machen.“

Ich weiß inzwischen, dass ich keine konventionellen Komödien spielen kann.

Sandra Hüller,

Schauspielerin

Hüller ist ein Star, der sich nicht vom Starsein beeindrucken lassen will. „Es ist einfach so, dass diese zwei Filme jetzt gleichzeitig heraus­gekommen und sehr erfolgreich sind. Das liegt nicht in meiner Hand, und ich freue mich darüber“, sagt sie. Was ihr ein möglicher Oscar bedeutet im Vergleich zu anderen Preisen? „Da mag ich keine Unterscheidungen machen.“

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Hüller spricht nicht gern über die Begeisterungs­welle, die über sie herein­gebrochen ist und die mitunter skurrile Züge annimmt. Ein Boulevardblatt brach in den Thüringer Wald auf, um ihre biografischen Wurzeln zu erkunden. In Friedrichroda („7000 Einwohner“) trafen die Reporter eine ehemalige Mitschülerin, ließen sich alte Schauspiel­garderoben zeigen und befragten ihren Vater. „Das hat mich erschreckt. Das stößt mich ab. Das muss ich so deutlich sagen“, so Hüller.

Wenn sie etwas nicht mag, dann ist das die Vermischung von Professionellem und Privatem. Jetzt muss sie viele Dinge tun, die sie nicht mag. Nur merkt man ihr das nicht an. Kürzlich tauchte sie in den USA in Jimmy Kimmels Late-Night-Show auf und plauderte darüber, wie sie die Bekanntgabe ihrer Oscar­nominierung beinahe verpasst hätte. Sie habe gerade den Müll rausgebracht. Da staunte Moderator Kimmel.

Hüllers Hund wurde gecastet

Umso überraschender, dass ihr schwarzer Labrador in „The Zone of Interest“ als Hund der Familie Höß auftritt. „Den hat der Regisseur zusammen mit anderen Hunden richtig gecastet“, sagt Hüller. Sie habe das Tier sowieso mitnehmen müssen zu den Dreharbeiten auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrations­lagers Auschwitz. „Jonathan Glazer hat sich meinen Hund angeschaut und sich für ihn entschieden.“

Bis zu Glazers Anfrage hatte Hüller Angebote für Nazi-Filme abgelehnt. Warum nicht auch diesen? „Wir haben eben keinen Kostümfilm gedreht und auch keine biografische Erforschung der Familie Höß betrieben. Das war damals keine besondere Spezies, die in Auschwitz gemordet hat. Das waren Menschen, die andere Menschen auf jede erdenkliche Art und Weise umgebracht haben.“

Sandra Hüller in dem Film „The Zone of Interest“.

Sandra Hüller in dem Film „The Zone of Interest“.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Umso dringlicher erscheint Hüller der Film mit Blick auf das Erstarken rechts­populistischer Parteien: „Der heute wieder offen gelebte Faschismus in Deutschland ist nichts, was über Nacht gekommen ist, er war nie weg. Nur fühlen sich diese Leute wieder sicher, dass sie das alles sagen dürfen.“ Für ihre eigene Arbeit will Hüller keinesfalls werben, aber einen Satz ringt sie sich ab: „Ich kann jedem nur empfehlen, diesen Film anzuschauen.“ Da bezieht sie AfD-Politiker mit ein.

Ruhm heimste Hüller zunächst am Theater ein. Wiederholt wurde sie von der Zeitschrift „Theater heute“ zur Schauspielerin des Jahres gewählt. Ihr Handwerk lernte sie an der renommierten Ernst-Busch-Schule in Berlin, wo sich auch Nina Hoss und Fritzi Haberlandt ausbilden ließen. Aus Hüllers Filmografie stechen das harte Exorzismus-Drama „Requiem“ (2006), die zarte Großmarkt-Liebesgeschichte „In den Gängen“ (2018) und zuletzt ihr Auftritt als hingebungsvolle Hofdame in „Sisi & Ich““ (2023) hervor.

Ich schicke meine Agentin nicht los und bitte sie, mir eine internationale Produktion zu suchen. Ich wohne gern in Leipzig, ich arbeite gern in Deutschland.

Sandra Hüller,

Schauspielerin

Hüller hat die große Bühne nicht gesucht: „Ich schicke meine Agentin nicht los und bitte sie, mir eine internationale Produktion zu suchen. Ich wohne gern in Leipzig, ich arbeite gern in Deutschland. Trotzdem bin ich froh, dass diese Tür offen ist. Die Frage ist bloß immer, ob es sich für das Projekt lohnt, von zu Hause wegzugehen.“

Diane Kruger hat an der Seite von Brad Pitt in „Troja“ (2004) das US-Kino erobert.

Diane Kruger hat an der Seite von Brad Pitt in „Troja“ (2004) das US-Kino erobert.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Nicht viele deutsche Schauspielerinnen haben den Schritt nach Hollywood geschafft. Diane Kruger fällt einem ein, die an der Seite von Brad Pitt in „Troja“ (2004) das US-Kino eroberte. Franka Potente verlegte ihren Wohnsitz nach dem Johnny-Depp-Film „Blow“ (2001) in die USA. Hüller braucht keinen Hollywoodstar an ihrer Seite.

Während die Oscarnacht herannaht, ist sie schon mit dem nächsten Film beschäftigt. Er spielt nicht in Hollywood, heißt „Rose“ und erzählt von einer Frau, die sich im Dreißigjährigen Krieg als Soldat ausgibt. Wohin diese Geschichte sie führen wird? Das weiß Sandra Hüller nicht: „Ich arbeite jetzt einfach weiter“, sagt sie.



Source link www.ln-online.de