Mit Alexander Wendts gerade erschienener Tiefenbohrung „Verachtung nach unten“ gibt es für den Rezensenten ein handwerkliches Problem: Wie soll man ein Buch angemessen vorstellen, in dem man jeden zweiten Absatz unterstrichen hat?
Wohl selten ist Antonio Gramscis Begriff der „Kulturhegemonie“, die sich in politische und materielle Macht übersetzt hat, so genau und gleichzeitig essayistisch federnd unter die Lupe genommen und auf die aktuellen Bedingungen hin untersucht worden. Ich behaupte, daß dieses Buch zum kultursoziologischen Standardwerk unserer spät- wenn nicht postdemokratischen Epoche avancieren wird.
Es ist reich an Details, ohne den großen Bogen zu verlieren. Es greift aus in anthropologische, historische und religionssoziologische Zonen. Es wird gespeist von einem enormen Quellenstudium, unter dem sich nicht wenige Bücher befinden, die bisher nicht in den deutschen Sprachraum vorgedrungen sind. Vor allem aber schildert es in bester Reportermanier Begegnungen mit denen, die den Autor in seinen Überlegungen durch den Gegenwartsdschungel einer komplett fraktionierten Gesellschaft führen, ob es der Immigrant ist oder der Schweißer aus Dresden, der CEO eines Hedgefonds oder die Wokeness-Beauftragte eines Großkonzerns.
Viele Arbeiter fühlen sich von den Linken vernachlässigt
Der Titel „Verachtung nach unten“ könnte nicht besser gewählt sein. Wendt entdeckt in dem Kulturkampf, den eine tonangebende Clique von „Erwachten“, die ein ganzes System, eine Ordnung aus Gewohnheiten und Lebensvertrautheiten zertrümmern wollen, um es fernen rosigen Horizonten entgegenzuführen, die blasierte Herablassung einer linksgrünen Oberschicht gegen diejenigen, die an Bewährtem festhalten wollen, bevor sie sich auf existenzbedrohende Abenteuer einzulassen gedenken.
Diese trifft der Bannstrahl der Verachtung. Kostprobe Wendt: „Wenn jemand die Wendung ‘Verkrustungen aufbrechen’ benutzt, dann meint er so gut wie nie seine eigenen. In den wenigsten Fällen fragt er die anderen, deren Verkrustungen er beseitigen will, nach ihrer Sicht – ungefähr so wenig, wie ein Suppenkoch ein Gespräch mit der Schildkröte für nötig hält, wenn er sich daranmacht, ihr den Panzer einzuschlagen.“ Tatsächlich gelingt es Wendt, die bessergestellten Kulturmarxisten in ihre eigenen Aporien zu verwickeln. Ihren Strategien nach soll das Bewußtsein das Sein bestimmen, statt umgekehrt, wie es die Klassiker vorgeben.
Wendt bietet dagegen den Schweißer (tagsüber) und Schriftsteller (nachts) Wolfram Ackner aus Dresden auf, der sich eine Zeitlang in linke WGs verirrt hatte: „Ich habe noch nie so ein Kastensystem erlebt wie in der linken Szene.“ Ackner gehört trotz seiner Lebensleistung, eine Existenz und eine Familie mit drei Töchtern gegründet zu haben, zu den Ungehörten, zu den Unsichtbaren. Adam Soboczinky in der Zeit zu diesem Milieu der Arbeiterklasse: Solche Leute seien „unsichtbar“, niemand zeige ihren Alltag, „sie sind nicht arm, sie sind nur unbedeutend und out“. Ihr Schicksal ist vergleichbar mit dem der Arbeiter im 19. Jahrhundert, bevor es die Gewerkschaften gab.
Nicht mehr das sozioökonomische, sondern das kulturelle Kapital entscheidet
Denn auch ihre angestammte politische Repräsentanz, die Sozialdemokratie oder die Linke, haben sich längst dem Wokismus angeschlossen, also der Religion der „Erwachten“, für die der Kampf um die Rechte von Transpersonen und anderen sich marginalisiert fühlenden Gruppen, etwa der Hunderttausenden von immigrantischen „Klimaflüchtlinge“ zur Hauptsache geworden ist. Diese Sozis scheinen sich zu schämen für die rückständigen Ackners dieser Welt. Denn Ackner ist trotz seiner Leistungen in ihren Augen nichts. Entscheidend ist das, was Wendt das „kulturelle Kapital“ nennt, über welches Ackner, der Unsichtbare, nicht verfügt.
Die neue Bruchlinie in der Gesellschaft verläuft nicht mehr zwischen links und rechts, die in früheren Zeiten immerhin Streit und Diskussionen ermöglichte. Nein: „Der Gegensatz zwischen innen und moralisch oben auf der einen und unten und draußen auf der anderen Seite gliedert heute fast alle westlichen Länder.“ Und mit „draußen“ muß man sich per definitionem nicht weiter beschäftigen.
Daß dieses Geschäft des Ausblendens in Deutschland besonders gründlich besorgt wird, sollte nicht überraschen, denn wir sind gern Perfektionisten, ins Gute wie ins Böse. Jüngster Beleg: Eine Zeitungskampagne regierungsnaher Presse-Erzeugnisse wie Die Zeit, Süddeutsche Zeitung und Tagesspiegel unter dem Hashtag „Zusammenland“, wobei klar wird, wer in diesem imaginären Land nichts zu suchen hat: nämlich diejenigen, die draußen sind, weil sie keine „Weltoffenheit“ aufbringen, welches selbstverständlich das Codewort für offene Grenzen ist.
Wokeness bedeutet die Rückkehr in die Vormoderne
Relativ früh in seinem Werk führt Wendt für die Kaste der moralisierenden Diskursherrscher den Begriff der „Wohlgesinnten“ ein, da sie ja, in aller rüden und rüdesten Form, nur das Wohl der Allgemeinheit im Auge zu haben behaupten. Und er erinnert an die Wurzel des Wortes, es ist der griechischen Mythologie entlehnt. Die Wohlgesinnten sind Eumeniden bzw. Erinnyen, die Rachegöttinnen aus der Orestie des Dichters Aischylos, nämlich Alekto, die besessen Verfolgende, sodann Megaira, die neidisch Zornige, und schließlich Tisiphone, die ewig Vergeltende.
In den Wohlgesinnten unserer Tage, ganz besonders in den Kämpfen an den Universitäten um die reine woke Lehre, sind alle drei als Phänotypen leicht auszumachen. Und Wendt führt sie vor in unzähligen Beispielen über Verfemungen, Veranstaltungs- und Lehrverbote, Karrierestürze, anonyme Beschuldigungen, Flugblätter, Schmierereien, und alle zeigen das Bild eines Bürgerkriegs, in dem alle Abweichungen von linken Diskursvorgaben geahndet werden mit der schicksalhaften Unbarmherzigkeit von griechischen Tragödien.
Sie zeigen die Zersplitterung einer Bürgergesellschaft in Clans und Stämme, also in vormoderne Zeiten, wofür Wendt den Begriff „progressiv-regressiv“ anbietet: Sie verkaufen unter progressiv wirkendem Anstrich die Rückkehr zu vormodernem Tribalismus und magischem Denken, etwa dem, daß eine geänderte grammatische Bezeichnung den realen Wechsel des menschlichen Geschlechts bedeutet.
Ein falsches Zitat und schon wird man gecancelt
Nicht der weiße Lagerarbeiter ist nach dieser Lehre in der Gesellschaft marginalisiert, sondern Menschen mit dunkler Hautfarbe, Transsexuelle, Muslime. Doch der Sturz in die Lautlosigkeit kann durchaus auch Angehörige der meinungsgebenden kulturellen Oberschicht treffen, so etwa Professor Michael Meyen vom Institut für Kommunikationswissenschaften in München, den Wendt besucht. Er ist einer, der zum Paria wurde, weil er auf seinem Blog die Meinungskonformität der Presse, besonders der Süddeutschen, beklagte und einen Gastbeitrag zuließ, der den „umstrittenen“ Blogger Ken Jebsen zitierte.
Das Blatt rief nach dem Verfassungsschutz. Kollegen wandten sich von ihm ab. Er verlor universitäre Funktionen. So schnell ist das konsensbesessene Juste milieu der Akademiker bereit, einen der ihren den Hunden zum Fraß vorzuwerfen, wenn er tatsächlich ernst nimmt, was eine Wissenschaftsinstitution doch erst ausmacht: den Austausch von Argumenten, den intellektuellen Streit. Ähnliches passierte dem Osteuropa-Historiker Jörg Baberowski (Berlin) oder dem zuletzt in Rostock lehrenden Altertumsforscher Egon Flaig.
Anpassungsdruck schafft Feudalismus in woke
Aber solche Fälle sind mittlerweile Legion, und Wendt zitiert die haarsträubendsten Beispiele aus den USA, aus Frankreich, aus England. Gegenwärtig allerdings ist in Deutschland unter der rotgrünen Innenministerin Nancy Faeser eine Ausweitung der Kampfzone zu beobachten – sie greift auch kleine Fische ab: Erst kürzlich wurde einer Kölner Stadtangestellten nach 40 Dienstjahren fristlos gekündigt, weil sie einen Vortrag des Identitären Martin Sellner besucht hatte. Inzwischen klagt die Frau gegen ihren Rauswurf.
Die „Erwachten“, die „Wohlgesinnten“ der kulturellen Eliten, nehmen gern die Rolle der moralisch Überlegenen an, sie halten sich für klüger, für ästhetisch gebildeter, sie sind erwacht zum „besseren Leben“. Hier erkennt Wendt eine religionssoziologische Rückkopplung, wenn er schreibt: „In dieser Selbstwahrnehmung kehrt ganz nebenbei die alte calvinistische Idee der Gnadenwahl in weltlicher Form zurück, die eine höhere Begründung für den eigenen materiellen Wohlstand liefert: Wir verdienen ihn, weil wir zu den moralisch Besseren gehören.“
In der Sinnproduktion herrscht eine feudale Klassengesellschaft: Oben auf dem Sonnendeck die Senderleiter und Chefredakteure, Hochschulprofessoren, Kirchenfürsten. Darunter Redakteure, Bedienstete, Dozenten, NGO-Mitarbeiter. Die unterste Klasse bilden diejenigen in prekären Arbeitsverhältnissen, darunter Journalisten mit Zeitverträgen, Autoren, die von ständig geringeren Zeilenhonoraren leben müssen. Das erzeugt einen Anpassungsdruck, auch sie möchten nach oben, sie möchten ins Sorgenfreie, und selbstverständlich hüten sie sich davor, unangenehm aufzufallen, etwa mit einer unbedachten Äußerung zur Gendersprache oder Massenimmigration. Dieses System ist mittlerweile schüttelfest und selbsterhaltend, es erzeugt Konforme und Opportunisten – womit die oft gestellte Frage nach dem Glaubwürdigkeitsverlust der Medien beantwortet wäre.
Ostdeutsche und Bauern als Prügelknaben
Die Verachtung der tonangebenden Kreise für die dort unten tritt zunehmend ungenierter auf. Jüngst kommentierte der Südwestrundfunk-Grande Rainald Becker die Bauernproteste mit den Worten: „Traktorfahren macht offenbar dumm.“ Es ist der Klassenkampf der linken Gutverdiener gegen die rechten Schlechtverdiener, wenn ein „erwachter“ Tagesthemen-Kommentator fleht: „Macht Fleisch, Autofahren und Fliegen so verdammt teuer, daß wir davon runterkommen!“
Eine besondere Verachtung trifft die transformationsmüderen Menschen im Osten des Landes, die gleichzeitig die hellhörigeren sind für Töne, die an die Tage der Diktatur erinnern. Sie werden nach Herzenslust von den „Wohlgesinnten“ verhöhnt, etwa wenn der einstige Spiegel-Mann Hasnain Kazim spottet: „Höre, ich soll Ostdeutsche ‘ernst nehmen’. Ihr kamt 1990 mit ’nem Trabi angeknattert und wählt heute AfD – wie soll ich euch ernst nehmen?“ Der Chefredakteur der Saarbrücker Zeitung schrieb ebenfalls nach einem Wahlergebnis im Osten, das ihm mißfiel: „Was bilden sich die Ossis eigentlich ein?“
Wendt hofft auf ein Ende der Kulturkämpfe
Seine großangelegte und in jeder Beziehung großartige Studie läßt Alexander Wendt in Überlegungen darüber münden, ob sich die offenkundigen Idiotien und Gaunereien woker Exzesse – etwa die haarsträubenden Hamas-Demonstrationen an amerikanischen Unis, in deutschen Innenstädten – mit der Zeit erledigen werden, da ihre Absurditäten immer offenkundiger zutage treten. Er glaubt, daß es für eine Weile ein Parallel-Laufen gibt, wie nach dem westfälischen Religionsfrieden am Ende des Dreißigjährigen Krieges, eine Ermattungsphase, in der die Kämpfe aus purer Ermüdung ruhen.
Ich für meinen Teil halte das für allzu optimistisch. Denn ich glaube, daß diejenigen, die sich für die Erwählten, die Erwachten, die Wohlgesinnten halten, um ihre Machtpositionen mit der allergrößten Chuzpe und demokratieverachtender Entschlossenheit kämpfen werden, denn sie verteidigen ja nicht nur ihre Privilegien – sie wähnen sich zudem auf der guten Seite der Geschichte.