Das österreichische Parteiensystem hat sich verändert. Ein Vielparteiensystem ist zu einem Zweiparteiensystem zusammengeschrumpft. Auf der einen Seite stehen die Österreichische Volkspartei (ÖVP), die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ), die Grünen und die liberalen Neos, auf der anderen Seite die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) mit ihrem Parteiobmann Herbert Kickl. Schwarz, Rot, Grün und Pink eint die Wiederholung der Wiederholung, 2024 nicht mit Herbert Kickl koalieren zu wollen.
Kickl hingegen will „Volkskanzler“ werden. In der aktuellen Kampagne der FPÖ heißt das: „Zuerst das Volk, dann der Kanzler! “ Hält die Parteienallianz „Alle gegen Einen“ oder kommt es zu einer Wählerallianz „Alle für Einen“?
In den ersten Monaten des Jahres werden im politischen Wien die Weichen für das große Wahljahr 2024 gestellt. Am 9. Juni findet die Wahl zum Europäischen Parlament statt. Die ÖVP geht mit Reinhold Lopatka ins Rennen. Der ÖVP-Europasprecher im Nationalrat gilt als weniger als eine Verlegenheitslösung. Der Reihe nach sollen die Granden im Vorfeld dankend abgelehnt haben.
Schwer zu glauben, daß in dieser Konstellation der FPÖ Platz eins zu nehmen ist
Mit Lopatka hat ÖVP-Chef Karl Nehammer einen Blitzableiter nominiert, der das drohende Debakel der Schwarzen voll abbekommen wird und durch sein Opfer Nehammer das politische Überleben für die Nationalratswahl sichern soll: „Lieber Reinhold, danke, daß du dir das antust, im wahrsten Sinne des Wortes“, bedankte sich Nehammer Ende Januar im oberösterreichischen Wels vor 2.000 Parteifunktionären bei seinem treuen Reinhold. FPÖ und SPÖ setzen auf Kontinuität.
Harald Vilimsky (FPÖ) und Andreas Schieder (SPÖ) haben die Listen der Freiheitlichen bzw. der Sozialisten 2019 angeführt und werden es 2024 wieder tun. Für die kleineren Parteien gehen der farblose ehemalige Kurier-Herausgeber Helmut Brandstätter (Neos) und die „Fridays for Future“-Aktivistin Lena Schilling (Grüne) ins Rennen. Schwer zu glauben, daß in dieser Konstellation der FPÖ Platz eins zu nehmen ist. Daß die Freiheitlichen zum ersten Mal in der Geschichte erster bei einer Europawahl werden, damit scheint man sich in den anderen Parteizentralen längst abgefunden zu haben.
Die EU-Wahl ist in Wirklichkeit nur ein Rädchen im großen Poker um die Nationalratswahl. Dabei ist noch nicht einmal klar, wann diese genau stattfinden wird. Turnusgemäß stünde der Wahltermin im Herbst an. Es wäre allerdings erst das zweite Mal in der Geschichte der Zweiten Republik, daß eine Regierung die volle Legislatur durchdient. Die Umfragen für die Regierung sind schlecht.
Kickl will „Volkskanzler“ werden und den „Systemkanzler“ ablösen
Die ÖVP ist momentan auf 20 Prozent, die Grünen auf 10 Prozent abgerutscht. Was Sebastian Kurz 2020 noch als „das Beste aus beiden Welten“ angepriesen hat, ist nur noch ein Bündnis zweier, die gegen das Ertrinken kämpfen. In der Regierung herrscht Stillstand, ein gegenseitiges Abtasten.
Zum selbstwußten Bruch, wie ihn Sebastian Kurz 2017 in der Großen Koalition mit der eigenen Partei und der SPÖ vollzog, dafür fehlt sowohl der ÖVP als auch den Grünen die Kraft. Nehammer hat nicht das Format, um die eigene Partei (wieder) neu zu erfinden. Der Kanzler läßt verzagte Testballons aufsteigen, wenn er ein Gender-Verbot in der Verwaltung ankündigt, und wartet darauf, ob sich die Grünen provozieren lassen. Vom Koalitionspartner erntet er dafür gelassene Häme: „Angst vor Doppelpunkten“ und eine „Ablenkungsdebatte“ will man bei den Grünen lediglich erkennen.
Die taktische Not bei den beiden Regierungsparteien und den stagnierenden Oppositionsparteien SPÖ und Neos ist deshalb so groß, weil die von Herbert Kickl geführte FPÖ seit nun mehr als einem Jahr in jeder Umfrage führt. Kickl hat konstant rund 30 Prozent der Bevölkerung hinter sich, er will „Volkskanzler“ werden und den „Systemkanzler“ ablösen.
Alle gegen die FPÖ
Um Kickl zu verhindern, werden erste Rufe laut, das alte Stillstandsbündnis der Zweiten Republik, die Große Koalition, wiederzubeleben. Es sind die Landespolitiker der SPÖ, die Rot-Schwarz im Bund erneuern wollen, um die rote Macht abzusichern und einen freiheitlichen Kanzler Herbert Kickl zu verhindern.
Kärntens Landeshauptmann Peter Kaiser (SPÖ) verkündete kürzlich: „Ich glaube, daß eine Koalition SPÖ-ÖVP für Österreich gut wäre. Im Kompromiß liegt manchmal auch die Chance, Österreich weiterzubringen.“ Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) hält Kaisers Position für „sehr schlüssig“ und meinte weiter: „Die Koalition zwischen SPÖ und ÖVP hat über Jahrzehnte hinweg dazu beigetragen, die Zweite Republik aufzubauen und hat viele Vorteile für die Bevölkerung erzielt.“
Auch wenn mehr als unklar ist, ob eine Große Koalition nach der nächsten Wahl überhaupt eine Mehrheit hätte, dürfte Kickl die nervöse Koalitionsansage aus dem Eck der Altparteien nur recht sein. Sie unterstreicht sein Alleinstellungsmerkmal: Alle gegen die FPÖ. Der FPÖ-Chef reagierte deshalb auch prompt und hält mit einer eigenen Koalitionsvariante dagegen: „Während die anderen Parteien in innerparteilichen Koalitionsstreitigkeiten und Hinterzimmer-Packeleien versinken, sind wir Freiheitliche die stabile Kraft im Land. Auch ich mache eine Koalitions-Ansage: Wir sind in einer Koalition mit den Österreichern!“
Koalition mit der FPÖ vielleicht, aber auf keinen Fall mit Herbert Kickl
Die das Kanzleramt besetzende Volkspartei hat aufs neue mit Altlasten zu kämpfen. Ex-Kanzler Sebastian Kurz wurde vor wenigen Tagen wegen Falschaussage vor dem Ibiza-Untersuchungsausschuß zu acht Monaten bedingter Haft verurteilt. Ein Paukenschlag! Kurz gab sich nach dem Urteilsspruch demonstrativ gelassen: „Das ist für mich nicht lebensverändernd. Mein Leben läuft morgen genauso weiter wie gestern.“ Er kündigte an, in Berufung gehen zu wollen.
Das Kurz-Urteil bedeutet auch für die ÖVP, daß es morgen genauso weitergehen wird wie gestern: Die Partei umweht anhaltend der wählerabstoßende Geruch der Korruption. Um Kickl doch noch zu verhindern, greift die taumelnde ÖVP in die Trickkiste. Sie hofft, die FPÖ spalten zu können: Koalition mit der FPÖ vielleicht, aber auf keinen Fall mit Herbert Kickl. Mit diesem Manöver will man die Freiheitlichen über kurz oder lang auseinanderdividieren.
Die Blauen werden gewarnt sein. 1999/2000 hat man das gleiche über Jörg Haider gesagt. Die FPÖ ging dann in Wien in die Regierung, und Haider blieb in Klagenfurt. Innerhalb von wenigen Jahren hat diese Konstellation das Dritte Lager politisch fast umgebracht. „Alle gegen Einen“ oder „Alle für Einen“, das wird also auch die Frage sein, die die FPÖ nach der nächsten Nationalratswahl für sich beantworten muß, wenn es um einen geht: Herbert Kickl.