Frankfurt (Oder)/Tel Aviv/Gaza. Seit über vier Monaten bekämpft die israelische Armee die islamistische Terrororganisation Hamas im Gazastreifen. UN-Angaben zufolge kamen dabei inzwischen mehr als 30.000 Menschen ums Leben. Zuletzt wurde die Kritik an der israelischen Militäroffensive immer lauter. Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, verurteilte die Angriffe Israels sogar als „Gemetzel“ – außerdem gebe es Hinweise auf Kriegsverbrechen, so Türk.

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Der Völkerrechtler Wolff Heintschel von Heinegg von der Europa-Universität in Frankfurt (Oder) hält den Einsatz Israels im Gazastreifen dennoch weiterhin für legitim. „Es sind nicht allein die israelischen Verteidigungskräfte, die Feindseligkeiten durchführen, die Hamas macht auch weiter“, sagte der Experte am Freitag dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).

Der Völkerrechtler Prof. Dr. Wolff Heintschel von Heinegg von der Europa-Universität in Frankfurt (Oder).

Der Völkerrechtler Prof. Dr. Wolff Heintschel von Heinegg von der Europa-Universität in Frankfurt (Oder).

Es stelle sich jedoch die Frage, was die israelischen Streitkräfte tun könnten, um die Zivilbevölkerung bestmöglich zu schützen. „Wenn man sich die Größe des Gazastreifens vor Augen führt, mehr als zwei Millionen Menschen leben dort, ist die Durchführung eines sauberen Kriegs aber eine Illusion. Das war schon in Afghanistan nicht möglich und ist es auch heute nicht“, so Heintschel von Heinegg. Hinreichende Verdachtsmomente auf Kriegsverbrechen der israelischen Seite habe er bislang nicht gesehen. Ausschließen möchte der Experte das aber nicht. „Fest steht, dass die Hamas am 7. Oktober Kriegsverbrechen begangen hat“, betonte er.

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Auslöser des Gaza-Kriegs war das schlimmste Massaker in der Geschichte Israels, das Terroristen der Hamas und anderer extremistischer Gruppen am 7. Oktober 2023 in Israel nahe der Grenze zu Gaza verübt hatten. Auf israelischer Seite sind mehr als 1200 Menschen getötet worden, darunter mindestens 850 Zivilisten.

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Experte: Offensive in Rafah völkerrechtlich erlaubt

Seit einigen Wochen droht der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu damit, den Militäreinsatz auf die Stadt Rafah im Süden des Gazastreifens auszuweiten, und legte dazu bereits Pläne vor. Nachdem die Streitkräfte zunächst im Norden des Küstenabschnitts gegen die Hamas vorgegangen waren, flüchteten Hunderttausende Menschen in die Stadt an der Grenze zu Ägypten. International warnen Politiker und Experten vor zahlreichen zivilen Opfern und einer weiteren Verschlechterung der humanitären Lage, sollte Israel die Hamas direkt in Rafah bekämpfen.

Die Tatsache, dass Zivilpersonen in Mitleidenschaft gezogen werden, ist nicht ausreichend, um von einer Rechtswidrigkeit solcher Angriffe auszugehen.

Völkerrechtler Prof. Dr. Wolff Heintschel von Heinegg

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Laut Heintschel von Heinegg wäre ein Militäreinsatz in Rafah dennoch völkerrechtlich erlaubt. Das hat vor allem den Grund, dass es in der Stadt sowohl militärische Infrastruktur als auch Kämpfer der Hamas selbst gibt. „Das sind zulässige Ziele, die Israel bekämpfen darf, damit der Konflikt zu Ende geht“, erklärte der Experte. Israel müsse aber Maßnahmen ergreifen, um den Kollateralschaden in der Zivilbevölkerung zu verringern oder nahezu zu vermeiden. „Das bedeutet nicht, dass die Streitkräfte auf den Angriff verzichten müssen. Das müssten sie nur, wenn der zu erwartende Kollateralschaden in einem exzessiven Missverhältnis zum erwartenden militärischen Vorteil steht“, sagte der Professor dem RND.

Die aktuelle Lage im Gazastreifen (Stand: 1. März 2024).

Die aktuelle Lage im Gazastreifen (Stand: 1. März 2024).

Das sei kein Zahlenspiel, weil der militärische Vorteil eine relative Größe sei. „Je höher der erwartete militärische Vorteil, desto höhere Kollateralschäden dürfen in Kauf genommen werden“, erklärte Heintschel von Heinegg weiter. „Die Tatsache, dass Zivilpersonen in Mitleidenschaft gezogen werden, ist nicht ausreichend, um von einer Rechtswidrigkeit solcher Angriffe auszugehen.“

Völkerrechtler zur tödlichen Katastrophe bei Hilfskonvoi: „Situation wohl völlig aus dem Ruder gelaufen“

Den aktuellen Vorfall, einer tödlichen Katastrophe bei der Ankunft eines Hilfsgüterkonvois im Gazastreifen, kann und möchte der Völkerrechtler nicht abschließend bewerten. „Was genau passiert ist, wissen wir nicht“, sagte er.

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Nach israelischen Angaben soll es bei der Ankunft eines Lastwagenkonvois mit humanitären Hilfsgütern zu einem chaotischen Gedränge gekommen sein. Eine Gruppe von Menschen soll sich israelischen Soldaten auch nach der Abgabe von Warnschüssen genähert haben. Die Soldaten eröffneten wegen der „Bedrohung“ schließlich das Feuer. Die Todesfälle seien „völlig inakzeptabel“, sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. Die US-Regierung drängte auf eine Aufklärung des Vorfalls. Der palästinensische UN-Botschafter Riad Mansur warf Israel die vorsätzliche Tötung von Palästinensern vor. Israel wies die Vorwürfe zurück.

Entsetzen nach tödlichem Vorfall bei Hilfsgüterlieferung in Gaza

Am Donnerstag waren im nördlichen Gazastreifen mehr als 100 Palästinenserinnen und Palästinenser, die auf eine Hilfslieferung warteten, getötet worden.

„Die Situation ist wohl völlig aus dem Ruder gelaufen“, kommentierte Heintschel von Heinegg. Dass es zu einem solchen Vorfall kam, in der eine notleidende Bevölkerung nach Wasser und Lebensmitteln verlangt, und dann Chaos ausbricht, sei für den Experten keine Überraschung gewesen. „Das hat es auch schon in Friedenszeiten gegeben. Ob die israelischen Streitkräfte sich in dieser Situation, sollte sie so passiert sein, richtig verhalten haben und warum sie sich bedroht gefühlt haben, darüber kann man streiten. Ich hätte den Einsatz bewaffneter Gewalt nicht als Option gewählt“, sagte der Völkerrechtler.

Feuerpause in Sicht? „Es ist eine sehr zwiespältige Situation“

Seit Wochen drängen Berichte über Fortschritte in den Verhandlungen zu einer Feuerpause sowie zu weiteren Geiselfreilassungen an die Öffentlichkeit. US-Präsident Joe Biden versprühte zuletzt Zuversicht: „Mein nationaler Sicherheitsberater sagt mir, dass wir nahe dran sind“, sagte er vor wenigen Tagen. Etwas Konkretes ist seitdem aber nicht passiert.

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Nicht allein die US-Regierung übe massiven Druck auf die israelische Regierung aus, so Heintschel von Heinegg. Er hoffe, dass die Verhandlungen zeitnah erfolgreich sein werden. Der bevorstehende muslimische Fastenmonat Ramadan (10. März bis 9. April) verstärke den Druck noch einmal. „Eine Feuerpause würde das menschliche Leiden im Gazastreifen deutlich absenken. Auf der anderen Seite hat Israel Angst davor, dass sich die Hamas neu gruppiert und möglicherweise zu einem weiteren Schlag ausholt. Es ist eine sehr zwiespältige Situation“, so der Professor.

ARCHIV - 26.01.2024, Israel, Kibbutz Reim: Israelis besuchen den Ort, an dem am 7. Oktober 2023 bei einem Terrorangriff von Mitgliedern der Hamas auf das Nova-Musikfestival Hunderte Feiernde getötet und entführt wurden. (zu dpa: «Bericht über systematische sexuelle Gewalt der Hamas am 7. Oktober») Foto: Oded Balilty/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Systematische sexuelle Gewalt: Bericht über Hamas-Überfall enthält verstörende Details

Ein neuer Bericht der ARCCI über sexuelle Gewaltverbrechen der Hamas bei ihrem Überfall auf Israel enthält Details über sadistische Handlungen. Die Autorinnen haben konkrete Erwartungen an internationale Organisationen.

Wie lange darf Israel die Hamas im Gazastreifen noch bekämpfen?

Eine zeitliche Begrenzung für einen solchen Einsatz wie der des israelischen Militärs ist im Völkerrecht jedenfalls nicht bestimmt. „Es gibt keine Regel, die besagt, dass man bewaffnete Feindseligkeiten in einer solchen Situation nur über eine bestimmte Zeitdauer durchführen darf“, erklärte der Experte.

„Im Völkerrecht kommt ein solcher nichtinternationaler bewaffneter Konflikt wie im Gazastreifen zum Ende, wenn eine friedliche Beilegung erfolgt – also beide Parteien sich auf ein Ende einigen. Das heißt, solange die Situation als nichtinternationaler bewaffneter Konflikt einzustufen ist, dürfen auch weiterhin Feindseligkeiten durchgeführt werden“, führte er aus.

Seiner Meinung zufolge könne ein nichtinternationaler bewaffneter Konflikt aber auch anders zum Ende gebracht werden. „Zum einen wäre das die vollständige Unterwerfung des Gegners, wie es Israel anstrebt. Die Erfolgsaussichten schätze ich in nächster Zeit aber als relativ gering ein. Eine andere Möglichkeit wäre das Abebben der Feindseligkeiten, sodass es nur noch sporadische Gewaltakte gibt, aber keine konzertierten bewaffneten Auseinandersetzungen mehr. Auch das ist im Augenblick aber nicht der Fall“, verdeutlichte Prof. Dr. Wolff Heintschel von Heinegg die festgefahrene Lage.



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